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Der Gipfel der Philosophen

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Wer unter Ideen leidet, mag es, wenn ihm jemand zuhört. Und der Kanzler kann gut zuhören

„Ich empfinde Autoren, die erst zweitausend Jahre alt sind, noch wie Zeitgenossen – und Zeitgenosse ist jemand, der keine Zeit hatte, eine Autorität zu werden.“ Peter Sloterdijk

Platon irrte. Philosophen dürfen niemals Könige werden. Es gibt nichts Gefährlicheres als Menschen, die versuchen, ihre Ideen in die Tat umzusetzen. Jeder kennt das von zu Hause. Oder denken wir an die neue Berliner Koalition. Nur weil ein entfernter geistiger Verwandter Gysis eine Art allerletzter Platoniker war, hat Gysi jetzt Schwierigkeiten jeder Art. Sogar wenn er seine Aktien bei der Berliner Bankgesellschaft zurückgibt – das ist die, die im letzten Jahr zwei Milliarden Miese gemacht hat. Und Gysi macht dadurch jetzt 4.000 Euro Miese, schreiben die Zeitungen. Gysi höre jetzt endlich auf, Vorteile zu ziehen. Bei 4.000 minus! Jedem anderen hätte man das als großmütige Tat zur richtigen Zeit ausgelegt. Nur ihm nicht. Weil er Platoniker ist. Oder Nachlassverwalter eines Platonikers.

Zumindest klingt der Name seiner Partei, als hätte die ein Erbe angenommen. Man weiß, wie sehr man sich mit Erbschaften ruinieren kann.

Marx war der letzte Platoniker. Er hatte im Grunde nur eine einzige, gar nicht besonders originelle Idee. Zu seiner Zeit begann die Wissenskultur gerade, erstaunliche materielle Früchte zu tragen. Von wegen Apfel am Baume der Erkenntnis! Das ist eine ganze Apfelplantage!, erkannte das 19. Jahrhundert und wurde nicht mehr fertig mit dem Ernten. So was gab es noch nie. Das Betriebsgeheimnis der Natur dampfte durch alle Schornsteine. Wenn es möglich ist, das naturhafte Schicksal zu brechen – warum sollte es nicht möglich sein, auch das gesellschaftliche Schicksal zu brechen? Wenn wir die Natur apfelgleich in unserer Hand halten, warum nicht unser eigenes Geschick?, dachte Marx, der Platoniker. Das war die Idee, Geburtsstunde eines Verhängnisses.

Platoniker sind nämlich Menschen, die sich mit Ideen beschäftigen, die zu groß für sie sind. Darum sind Platoniker in Abendgesellschaften so anstrengend. Darum hat der Tyrann von Syrakus Platon wieder nach Hause geschickt. Wer dieses Stadium aber schon hinter sich hat, den nennt man einen Realo. Zum Beispiel den Betreiber des Spreeparks Berlin.

Der Spreepark liegt gleich bei uns um die Ecke, und in den letzten Wochen haben sie dort Karussells umgeräumt. Na klar, dachten wir, wer 29 Millionen Euro Schulden hat, muss sich etwas einfallen lassen. Dann waren die Karussells weg, und in der Zeitung stand, die sind jetzt in Peru. Mitten in Berlin einen ganzen Vergnügungspark nach Peru umräumen! Das ist angewandter Antiplatonismus.

Oder nehmen wir Bush. Menschen, die etwas in die Tat umsetzen, von dem wir, genau wie beim Spreepark-Betreiber, erst hinterher wissen werden, was es eigentlich war.

Viele halten das für vernünftig. Keiner will mehr mit einer Idee gesehen werden. Aber wer sagt denn, dass Ideen zum Verwirklichen da sind? Man sollte sie verstehen. Denn wer Ideen nicht mehr versteht, berurteilt sie moralisch. Darum nennen manche Gysi einen Lügner. Wer Freiheit und Sozialismus sage, lüge entweder am Anfang oder am Ende des Satzes.

Auf die Spannweite des Satzes kommt es an. Es gibt Sätze, die kommen von ferner her und gehen weiter hin. Wer sie mitdenkt, muss gar kein Sozialist sein. Er ist mit den Gedanken einfach woanders. Tiefer im Gestern und teilnehmender im Morgen.

Interessant ist, dass der Typus Mensch, der genau solche Sätze denkt, gerade wieder enorm zunimmt. Die Kluft zwischen denen, die von ferner her und weiter hin denken, und den praktizierenden Antiplatonikern wächst nach dem 11. September.

Es gibt verschiedene Weisen, mit dieser beunruhigenden Lage umzugehen. Eine hat gerade der Kanzler erfunden. Der Praktiker lädt die (Rest-)Platoniker einfach zu sich ein. Er spricht mit ihnen. Denn er hat ihre Schwäche erkannt. Wer unter Ideen leidet, mag es, wenn ihm jemand zuhört. Und der Kanzler kann gut zuhören. Hinterher erinnern sich die Platoniker mit einer gewissen Rührung ihres Kanzlers. Gerührte Intellektuelle aber sind viel angenehmere Landsleute als zornige Intellektuelle.

Das hat der Tyrann von Syrakus nicht gewusst.

Andererseits ist ein solches Schisma in der geistigen Lage der Gegenwart naturgemäß die Stunde der Philosophen. Sie schlug vor über einer Woche.

Nimmt man die Kritiken, die über das erste „Philosophische Quartett“ erschienen, könnte es zugleich das letzte gewesen sein. Dabei haben sich alle richtig Mühe gegeben, die Philosophen im Dresdener „Glashaus“ und die Kritiker nachher beim Verreißen. Dem von der Süddeutschen Zeitung ist sogar aufgefallen, dass Büchners Lenz genau am 20. Jänner durchs Gebirg ging, dem Datum des ersten philosophischen Quartetts also. Das kann kein Zufall sein, dachte der Kritiker, ernannte Sloterdijk, Safranski und deren Gäste Messner und Schorlemmer umgehend zu legitimen Nachfolgern Lenzens und schrieb folgenden Eintrag ins Gipfelbuch: „Allein die vier Halbschuhtouristen kamen nicht hoch!“

Fast alle bekannten, dass ihnen nie so flachländisch zumute gewesen sei wie bei diesem philosophischen Gipfeltreffen. Das war eigenartig. Denn die vier haben „die Angst“ wirklich vermessen. Haben wir vorher gewusst, dass man mit diesem elementaren Selbsterfahrungsbegriff zur Gründungsurkunde der Zivilisation als auch zu deren größten Selbstrisiken kommt, um unterwegs ein Psychogramm der westlichen Gegenwart zu zeichnen, das weder die Neurosen einer Überversicherungsgesellschaft noch die Idee des Arbeitslosseins oder das Berufsbild des „Facharbeiters für falschen Alarm“ (Sloterdijk) ausspart.

Schon klar, letzterer ist nach Sloterdijk der Journalist. Ein wenig kränkend war das schon.

Keiner will mehr mit einer Idee gesehen werden. Aber wer sagt, dass Ideen zum Verwirklichen da sind?

Überhaupt hat Sloterdijk schon vorher alles Mögliche gesagt, was die Meinungsbildenden verstimmen musste. Nicht nur, dass beide grundverschiedene Aktualitätsbegriffe haben. Kein Journalist würde Leute, die erst zweitausend Jahre alt sind, für seine Zeitgenossen halten wie Sloterdjik und Safranski.

Und dazu dieses Misstrauen ins Meinungshafte, in das Spiel von Argumentieren und Widerlegen. Durfte man nicht erwarten, dass eine Sendung, die „Philosophisches Quartett“ heißt, sich ein paar philosophische Bücher nimmt, um sie mit Genuss zu versenken ? In Sloterdijks Fall vielleicht Habermas? Welche unausdenkbare Karriere hätte Reich-Ranickis Satz „Ich habe mich gelangweilt“ noch vor sich haben können.

Stattdessen sprengten die vier unsere Gegenwarts-Zeitblase und ließen das Bekannte wie zum ersten Mal sehen – mit Verbindungen überall hin, Berührungen von überall her. Das ist Philosophie. Und vielleicht ist es der Grund, warum Sloterdijk das Denken erotisch findet.

Die nihilistische Kultur kennt nur Geschäft oder Vergnügen, hat Nietzsche gesagt, obwohl er uns gar nicht kannte. Das philosophische Quartett, das stimmt, war keines von beiden. Aber wie kommen wir dann auf die Augenhöhe der Gegenwart?

Es gibt eine Hoffnung. Jürgen Möllemann (FDP) schreibt ab Februar Kolumnen im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der Spätplatoniker.

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