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Eine Ewigkeit zwischen Leben und Tod

7.000 Exponate sind normalerweise im Berliner Naturkundemuseum ausgestellt. Bei der Langen Nacht der Museen werden 26 Millionen gezeigt

Draußen vor den hohen Doppelfenstern vergeht die Zeit. Regen, Sonne, Schnee. Faschismus, Sozialismus, Marktwirtschaft. Hier im Schlangensaal steht die Zeit seit 112 Jahren still. Als würden sie schlafen, liegen die Tiere zusammengerollt in den hohen Glaszylindern, aufgereiht in mannshohen Vitrinen. Sie ruhen in reinem Alkohol als wären sie zwischen Leben und Tod verharrt. Auf handgeschriebenen Etiketten stehen – teils noch in altdeutschen Lettern – Fundort, lateinischer Name und Registernummer der Reptilien. Manche Gläser wurden vor über 200 Jahren gefüllt und der einst klare Alkohol schimmert jetzt bernsteinfarben wie alter Whisky. Fett und Pigmente der Schlangenhäute lösten sich im Laufe der Jahre – ein kleiner Tribut an die betrogene Zeit.

Der dunkle Linoleumboden knarzt bei jedem Schritt. Ein feiner Alkoholduft hängt in der Luft. Die meisten Gläser sind nicht versiegelt. Nach heißen Sommertagen wandert ein Museumsangestellter durch die Flure und schenkt den durstigen Geschöpfen nach.

Dieser Teil des Museums bleibt Besuchern verwehrt. Nur zweimal im Jahr, zur langen Nacht der Museen, machen die Forscher eine Ausnahme. Sie räumen ihre Schreibtische leer und stauben die Exponate ab. Vorsichtig lotsen sie dann die Neugierigen durch dieses innere Heiligtum der deutschen Naturkundeforschung. Experten wie Matthias Glaubrecht, der Kurator der Weichtierabteilung, führen die Gäste durch Labyrinthe aus Holzschränken und Glasvitrinen.

Der 39-Jährige erzählt gerne die Geschichten seiner Lieblingsstücke. „Es ist fast detektivische Spürarbeit nötig, um herauszufinden, woher die älteren Exponate stammen.“ Er holt eine Plastikdose mit fingernagelgroßen Schneckenhäusern aus seiner Schreibtischschublade. Über hundert Jahre seien diese Exemplare der „Pseudopotamis Finschi“ unbeachtet herumgelegen. Erst als man in den vergangenen Jahren die Katalogbestände aus dem 18. und 19. Jahrhundert restaurierte, stieß man wieder auf ihre Existenz und Herkunft. Ein Herr Finschi hatte sich um die Jahrhunderwende auf Kosten des Naturkundemuseums zu den Tores-Strait-Inseln zwischen Australien und Neu-Guinea aufgemacht. Zum Dank übergab er alle Fundstücke dem Museum. Jetzt dienen sie der Wissenschaft. „Wir versuchen anhand der verschiedenen Schnecken grundlegende evolutionsbiologische Prozesse zu rekonstruieren.“ Die „Pseudopotamis Finschi“, sagt Glaubrecht, hätten eine große Lücke geschlossen. Natürlich könne man das auch mit Elefanten erforschen. „Das Museum bekäme dann aber logistische Probleme.“

Schnecken lassen sich einfacher aufbewahren. Die Gehäuse müssen nicht ins Alkoholbad. Eine Schublade im großen Trockenlager genügt. Nur die Tintenfische schweben hier in ihren Alkoholsärgen. Eines der größten Exemplare der Welt schaut aus golfballgroßen Augen auf das Treiben der Archivare. Im Glas daneben das Auge seines großen Vetters, eines Riesentintenfischs. Ein ledriger Ball mit dem Umfang eines Kinderkopfes. Viel mehr bleibt nicht übrig, wenn die Tiere aus der nachtschwarzen Tiefsee auftauchen und an Land gespült werden.

„Platt wie vom Lastwagen überfahren“, sagt Glaubrecht und kramt weiter durch das Archiv. Er stellt sich auf die Zehenspitzen und angelt ein zylinderförmiges Schneckenhaus vom obersten Regal einer hundert Jahre alten Kirschholzvitrine. Zum Alkoholdunst kommt hier noch der Geruch von Bohnerwachs und Politur. „Mit 60 Zentimetern Länge ist das die größte noch existierende Schneckenart der Welt.“ Weichtiere, sagt Glaubrecht und klingt ehrlich entrüstet, gelten zu unrecht als eklig.

„Hier zum Beispiel Tridacna, auch Taufbecken- oder Killermuschel genannt. Diese Tiere produzieren Perlen so groß wie ein Fußball.“ Die aufgeklappte Muschel hat die Maße eines Waschbeckens. Außen rau und grau ist ihre Innenseite rosa und glatt wie eine Emailleschüssel. Auf dem Regal daneben ruhen weitere Riesenmuscheln. Bevor Glaubrecht diese Schätze am Samstagabend auf seiner „Den Schnecken und Schlangen auf der Spur“-Tour zeigt, werden noch einige kostbare Exemplare hinzukommen. Glaszylinder mit roten Aufklebern zum Beispiel. Die so genannten Typuspräparate darin dienten Wissenschaftlern vor über hundert Jahren zur ersten Beschreibung einer bis dato unbekannten Art. Zoologen aus aller Welt reisten nach Berlin um ihre Forschungsergebnisse mit diesen Prototypen zu vergleichen. Eine Nacht lang können die auch Normalsterbliche betrachten und dabei die Zeit vergessen.

THILO KUNZEMANN

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