: Letzte Ausfahrt Bangkok
Herzens- (und andere) Ergießungen eines sexliebenden Normalbürgers: In seinem neuen Roman „Plattform“ erweist sich Michel Houellebecq als metaphysischer Pornograf. Gesellschaftskritisch interessierte Leser müssen daher ganz tapfer sein
von DIRK KNIPPHALS
Love is a gunman
Okay, da ist das Sextourismusthema. Und die Islambeschimpfungssache. Und das Pornoding. Rote Ohren zuhauf und großes Gebrumme gab es im literarischen Bienenkorb, als dieses Buch vergangenen Sommer in Frankreich herauskam. In diesen Tagen erscheint „Plattform“ nun auf Deutsch, und noch immer stürzen sich alle Berichte vor allem auf die skandalträchtigen Aspekte. Davon gibt es gewiss genug. Bringen auch wir es also hinter uns. Erwähnen auch wir, dass Michel Houellebecq in diesem Roman die Provokationsmaschine auf Hochtouren hat laufen lassen. So. Allerdings, das geschah keineswegs überraschend.
Dirty talk, explizite Szenen, Ausfälle gegen wen auch immer füllten auch die „Ausweitung der Kampfzone“ und „Elementarteilchen“, die vorangegangenen Romane, die den dunklen Ruhm dieses Autors begründet haben. Die Grundidee zu „Plattform“ ist sogar gänzlich aus „Elementarteilchen“ geklaut. Über Bruno, eine der beiden Hauptfiguren, heißt es dort: „Für eine kleine, in einen Minirock gehüllte Möse jedoch war er bereit, bis ans Ende der Welt zu reisen. Wenigstens bis nach Bangkok jedenfalls.“ Das erledigt in „Plattform“ nun der Ich-Erzähler. Michel, ein durchschnittlicher Angestellter, fliegt nach Bangkok, des Sexes wegen. Der Rest ergibt sich.
Das abgetan, kann man auf ein paar Aspekte hinweisen, die in den bisherigen Würdigungen meist unerwähnt blieben. Dass „Plattform“ ein für Michel Houellebecqs Verhältnisse stellenweise ziemlich lichter Roman ist, in dem man von für diesen Autor ungewöhnlich vielen glücklichen Momenten erfährt. Dass darüber hinaus neben den Provokationen auch der eigentümliche pornografische Kitsch, der das Buch durchzieht, interessant ist. Zunächst aber ist es wohl geboten, sich gehörig darüber zu wundern, wie quer dieses Buch zu dem Bild steht, das man sich zuletzt von diesem Autor machen konnte.
Als seltsamen Vogel zeichneten ihn die Porträts schon immer, was vielleicht an seinen ständig qualmenden Zigaretten, vielleicht an seinem merkwürdigen Blick, vielleicht auch an seinen seltsamen Gesangsauftritten nach der Frankfurter Buchmesse 1999 lag, deren Star er war. Aber das betraf sozusagen nur die menschliche Seite. Literarisch lagen spätestens seit „Ausweitung der Kampfzone“ die Versuche im Trend, Michel Houellebecq als Schwer- und Großliteraten zu inthronisieren. Wer etwa durch den von Thomas Steinfeld herausgegebenen Besprechungs-Sammelband „Das Phänomen Houellebecq“ blättert, dem purzeln die Stichworte aller gegenwärtigen Ernstdiskurse (Stand vor dem 11. September 2001) nur so entgegen. Vom „Elend der spätliberalen Welt“ ist dort die Rede, von der „Abschaffung des Menschen“ durch die Gentechnik, von der „Ausweitung des Klassenkampfes auf die Sexualität“, vom Versagen der 68er, von „Korrekturen an der Schönen Neuen Welt“ – alles, was das kritische Bewusstsein begehrte, ließ sich offenbar auf die Texte dieses Autors projizieren. Michel Houellebecq, das war so etwas wie die Rache der Neoliberalismus-, Hedonismus-, Globalisierungs-, Individualisierungs- und Was-weiß-ich-Kritiker an der Literatur.
Und nun so etwas! Es ist fast schon gemein, die bisher mit ziemlich teutonischer Ernstwucht verlaufene Rezeption mit dem aktuellen Roman zu konfrontieren. Jedenfalls stolpert der Ich-Erzähler Michel im ersten Teil als Mitglied einer Reisegruppe durch Thailand, es kommt zu Begegnungen mit Naturszenerien sowie zu Besuchen in Massagesalons; zwischendurch schlägt sich Michel mit seinen Mitreisenden herum und onaniert ansonsten viel und gerne, einmal auf ein Exemplar von Grishams Bestseller „Die Firma“ („eh kein Buch, das man zweimal las“).
Während der Reise lernt Michel die Tourismusangestellte Valérie kennen, mit ihr sehen wir ihn im zweiten Teil glücklich vereint. Kern des Buches sind nun die Beischlafszenen; zu Hochzeiten tut gelingender Sex auf jeder zweiten Seite seine befriedigende Wirkung. Und zwischen allen diesen Fellatio-, A-tergo- und Partnertauschszenen reift die Idee, die Sache mit dem Sextourismus einmal im großen Stil anzugehen: „Auf der einen Seite hast du mehrere hundert Millionen Menschen in der westlichen Welt, die alles haben, was sie sich nur wünschen, außer dass sie keine sexuelle Befriedigung mehr finden … Und auf der anderen Seite gibt es mehrere Milliarden Menschen, die … nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihren Körper und ihre intakte Sexualität. … Das ist die ideale Tauschsituation.“ Was ganz am Schluss dann eine islamistische Terrorgruppe anders sieht. Sie überfällt einen der Tourismusclubs namens „Eldorado Aphrodite“, die nach Michels Rat mit dem Spruch für sich warben: „Weil wir das Recht haben, uns zu vergnügen.“ Die meisten, die sich das Recht genommen haben, sind dann tot.
„Plattform“ ist ein Kolportageroman, von Michel Houellebecq konzeptionell eher unaufwändig um die einzelnen Episoden herum komponiert. Das Buch lässt sich aber in gewisser Weise auch als Roman eines Spielverderbers lesen, so als wolle Houellebecq die Höhe der Debatten über ihn bewusst unterlaufen. Falls ihm daran gelegen gewesen war, dem Schicksal als avancierter Gegenwartsanalytiker zu entgehen, so ist er diesem Ziel nun um einiges näher gekommen. Zumindest schlagen alle Versuche fehl, „Plattform“ mit dem Ansatz einen kritischen Gehalt zu unterstellen, hier werde dem Sextourismus ein Spiegel vorgehalten. Dafür ist Houellebecq viel zu wenig an der realen Situation in Thailand (und übrigens auch in Kuba) interessiert. Was ihn fasziniert haben muss, das ist allein die Idee, dass es hier guten Sex zu kaufen gibt.
Mag sein, dass „Plattform“ den Moment bezeichnet, an dem ernsthafte Leser Michel Houellebecqs ganz tapfer sein müssen: Das gesellschaftskritische Denken ist mit diesem Roman jedenfalls nicht voranzubringen. Wer sich auf die Suche nach so etwas wie einem Zentrum begeben will, wird dagegen beim Sex anfangen müssen. Denn immerhin: Als Pornograf und Erotomane war Michel Houellebecq nie so konsequent wie in diesem Buch. Immer und immer wieder schildert er die körperlichen Verrichtungen der Lust, das Spiel der Geschlechtsorgane. Darüber, dass dies sehr mechanisch geschieht, muss man sich nicht lange wundern, denn in der körperlichen Mechanik, nicht in der Psychologie liegt für Houellebecq alles. Wie konsequent dieser Schriftsteller die ehrwürdige Tradition der Liebesschilderung auf den reinen Akt, den bloßen Vollzug zurückführt, zeigte sich bereits in einem vor eineinhalb Jahren in der Zeit abgedruckten Gespräch. Houellebecq kündigte darin an, „reines Glücksempfinden“ zeigen zu wollen. Er führte dann also einen Kurzfilm vor, von dem die dezent irritierte Interviewerin wie folgt berichtet: „Was wir nun zehn Minuten lang sehen, ist die realistische Aufnahme eines Cunnilingus zwischen zwei Frauen. Die Kamera wechselt die Einstellung nicht, sie bleibt still ausgerichtet auf die genießende Frau.“ Verblüffend ist vor allem die materialistische Einfachheit des Denkens Houellebecqs in dieser hübschen Szene. Das Glück liegt in den Reizempfindungspartikeln unserer Geschlechtsorgane (wer „Elementarteilchen“ gelesen hat, weiß schon, wie diese Nervenenden heißen: „Krause-Endkolben“). Es ist ein gar nicht mal allzu unterkomplexer Ansatz, „Plattform“ als simple Illustration dieses Satz zu verstehen. Sowie als Klagegesang darüber, dass dies Glück in dieser falsch eingerichteten Welt nicht von Dauer ist – da sind hier die islamistischen Attentäter vor.
„Außer während des Geschlechtsakts gibt es nur wenige Augenblicke im Leben, in denen der Körper vor bloßer Seligkeit überschäumt und durch das bloße Dasein auf der Welt voller Freude ist“, so heißt es in „Plattform“ einmal. So beinahe rührend kitschig dieser Satz ist, so bedeutsam ist er doch im Ideenhaushalt des Romans. Denn was Houellebecq in seinen pornografischen Szenen vorführt, das ist nichts anderes als eine Ethik des Lustgewinns: Alles in Ordnung, was einem selbst oder dem Partner nur Lust verschafft. Dabei schwingt sich der Roman sogar bis in metaphysische Höhen auf, an einer Stelle bezeichnet der Erzähler die Geschlechtsorgane als „schwache Entschädigung“ Gottes dafür, dass er uns „als törichte, grausame, sterbliche Wesen“ geschaffen hat.
Michel und Valérie bilden im Kontext dieses Romans ein ideales Paar. Ohne weitere Ansprüche zu stellen, ohne Eifersucht, ohne Beziehungsgespräche verschaffen sie sich freundlich und gekonnt gegenseitig Momente der Lust. Nichts dagegen, das eine Männerfantasie zu nennen. Nichts dagegen, die Art, wie das geschildert wird, als Porno zu bezeichnen. Nur die eine oder andere germanistische Untersuchung über Michel Houellebecq und die Erotik möchte man dann doch anregen, in diesem Thema steckt einiges drin.
Innerhalb des Werkes könnte etwa die Figur der Valérie mit ihren Vorgängerinnen Annabelle und Christiane aus den „Elementarteilchen“ in Beziehung gesetzt werden; auch sie sind Frauen, die ihren Partnern unprätentiös Glück verschaffen – wobei allerdings alle positiv gezeichneten weiblichen Figuren bei Michel Houellebecq auffälligerweise recht früh sterben müssen, Valérie durch die Terroristen, Annabelle durch Krebs und Christiane durch Selbstmord. Und innerhalb der literarischen Tradition wäre es einmal interessant, Houellebecq mit dem Liebesdiskurs seit der Romantik ins Verhältnis zu setzen. Dass das Zentrum des Glücks unsprachlich ist, diesen Topos immerhin nimmt er auf. Dafür gibt es derzeit wohl keinen anderen westlichen Schriftsteller, der sich so sehr von jedem psychologisierenden Diskurs fernhält wie er. Bei Houellebecq – und das ist wohl die größte Provokation – sind es allein die Körper, die zählen.
Michel Houellebecq: „Plattform“. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Dumont Verlag, Köln 2002, 338 Seiten, 24 €
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