: Eine feste Burg ist unser Job
LOHN UND BROT (4): Roland Koch und Gerhard Schröder stempeln Arbeitslose gern als „Faulenzer“ ab. Eine Unverschämtheit. Der Erfahrungsbericht eines Erwerbslosen
Die arbeitsmarktpolitische Diskussion in Deutschland ruft in mir immer dasselbe Bild hervor – das Bild einer mittelalterlichen Burg namens „Zweidrittelgesellschaft“, vor deren verrammelten Toren sich ein paar Millionen Leute die Lunge aus dem Leib schreien: „Wir wollen hier rein!“ Und unser Ruf bleibt nicht ungehört, oh nein! Herren wie Schröder, Scharping oder Koch beugen sich über die Mauer … um doch nur die immer gleiche Antwort von sich zu geben: „Geht erst mal arbeiten, ihr faulen Säcke!“
Säße ich in der Burg, warm und trocken, würde ich das erbärmliche Theater, das unsere politische „Elite“ dem ausgegrenzten Drittel der Gesellschaft vorspielt, mit einem Achselzucken abtun und schnell weiterblättern zum Kultur- oder Sportteil. Doch so leicht kann ich es mir nicht machen, weil auch über meine persönliche Zukunft verhandelt wird.
Die jüngste Bundesratsinitiative von Roland Koch, Erwerbslose in niedrig qualifizierte Jobs in den zweiten Arbeitsmarkt zu pressen, bringt uns dem eigentlichen Ziel nicht näher, die Erwerbslosen in reguläre Jobs zu integrieren. Dies dürfte aufmerksamen Lesern des Artikels von Barbara Dribbusch nicht entgangen sein (taz vom 25. 1.):
Ein Vorläuferprojekt in Leipzig „erwies sich als weniger erfolgreich …“. Aha.
„Außerdem machten die ABM-Kräfte den örtlichen Handwerkern Konkurrenz.“ So, so.
„Das (Leipziger) Modell wurde nach einiger Zeit wieder zurückgefahren.“ Noch Fragen?
Mit einer Integrationsstrategie für das ausgegrenzte Bevölkerungsdrittel hat dieses tolle „Modell“ offensichtlich genauso wenig zu tun wie mit dem Wunsch der Burgbewohner, dass die von ihnen erwirtschafteten Milliardenbeträge intelligent verwendet werden.
Dabei wäre der wichtigste Schritt aus der Misere fast kostenlos, abgesehen von den Anstrengungen für ein gesamtgesellschaftliches Konzept: Wir brauchen eine psychologische Trendwende. Denn so wie man an der Börse keinen Aufschwung hinkriegt, wenn die Investoren schlechter Stimmung sind, lassen sich Arbeitslose nicht in reguläre Jobs vermitteln, wenn man sie permanent als Faulenzer abstempelt.
Es wäre also an der Zeit, dass unsere politischen „Eliten“, aber auch ihre Herolde in den Medien endlich zur Kenntnis nehmen, dass die Gruppe der Erwerbslosen sehr heterogen ist. Neben den ständig diskutierten Problemfällen, die dreist als Täter gebrandmarkt werden, gibt es auch ein paar hunderttausend leistungsfähiger und -williger Leute, die jeden durchschnittlichen Bürojob genauso gut machen würden wie die vielen Millionen Arbeitsplatzbesitzer, die damit innerhalb der Burg ihre Brötchen verdienen.
Wie wäre es also, die Überlebensleistung dieser Erwerbslosen herauszustreichen? Wie wäre es, die Betroffenen bei ihren Integrationsbemühungen individuell und kompetent zu unterstützen? Wie wäre es, für ein positives publizistisches Dauerfeuer zu sorgen und den Personalchefs einzuhämmern, dass es gute Leute sind, gute Leute sind, gute Leute sind …? Welche Ethikkommission diskutiert nicht nur die Würde des Embryos und seiner Stammzellen, sondern auch die Würde der 40–50-jährigen Erwerbslosen, die mit beispielloser Brutalität zum alten Eisen degradiert werden? Wer propagiert eine Kultur der gleichmäßigen Verteilung vorhandener Arbeit, insbesondere im qualifizierten Beschäftigungssegment? Wer vertritt die Vision einer Gesellschaft, die das Freiheits- und Wohlstandsversprechen der sozialen Marktwirtschaft einlöst, indem sie den Beschäftigten Zugang zur Ressource „Zeit“ und den Erwerbslosen Zugang zur Ressource „Geld“ verschafft? Wann kommt endlich die dramatische Ansprache des Bundeskanzlers zur Prime Time, der die These vertritt, dass wir uns 1,8 Milliarden Überstunden angesichts von 4 Millionen Erwerbslosen nicht länger leisten können? Wer rechnet vor, wie die etwa 60 Milliarden Euro, die uns die Arbeitslosigkeit schon heute jährlich kostet, so umzuschichten sind, dass Jobsharingangebote für Unternehmen lukrativ werden? Wer wirbt bei den Unternehmen für den Gedanken, dass sie die gewünschte Flexibilisierung mit mehr Angestellten besser hinbekämen? Welcher Politiker hat den Mut, den scheinbaren Interessengegensatz von „drinnen“ und „draußen“ durch die Idee von „mehr Lebensqualität für alle“ zu überbrücken und politische Führungsverantwortung zu zeigen?
Statt dessen wird die Lüge von der „sozialen Hängematte“ hergebetet. Ist gar keine Lüge? Dann kommen Sie doch bitte mal in meine Hängematte zum Probeliegen! Über diese Verdrehungen, die Überlebensstrategien denunzieren und die Geringverdienenden gegen die Erwerbslosen aufhetzen sollen, könnte ich lachen, würden sie nicht meine persönlichen Integrationschancen vermindern. Denn zu allen Wettbewerbsnachteilen, die eine Bewerbung aus der Arbeitslosigkeit heraus ohnehin mit sich bringt, muss ich nun auch noch gegen Denkschemata ankämpfen, die entlang der Linie „faul–Problem–Zwang–Billigjobs–Subventionierung von Billigjobs“ von offizieller Seite zementiert werden.
Angesichts eines abgeschlossenen Hochschulstudiums, von Praktika, Teilzeittätigkeiten und einer jahrelangen prekären „freiberuflichen“ Berufsbiografie, aber auch angesichts guter Zeugnisse, permanenter Bewerbungen, bundesweiter Mobilitätsbereitschaft und einer gerade abgeschlossenen EDV-Fortbildung finde ich es unverschämt, meine „Arbeitswilligkeit“ beweisen zu sollen.
Machen Sie doch mal ein Experiment, Herr Koch, melden Sie sich beim Arbeitsamt Berlin-Neukölln arbeitslos und sagen Sie Ihrem „Arbeitsvermittler“, Sie seien ein motivierter, gut ausgebildeter Akademiker – ein ehemaliger hessischer Ministerpräsident gar! – und Sie würden lieber heute als morgen einen neuen Job antreten. Ob er Ihnen Kontakte zu Unternehmen vermitteln könne; ob er Ihnen Ansprechpartner für Leute mit abgeschlossener EDV-Fortbildung nennen könne; ob es Anlaufstellen von Unternehmen in Süddeutschland gebe, die Mobilitätswillige individuell und unkompliziert beraten. Und Ihr freundlicher „Arbeitsvermittler“ wird Ihnen, Herr Koch, dasselbe sagen, was er mir vor ein paar Tagen zu verstehen gab: nämlich dass er gar nichts für Sie tun könne, „weil ich 1.500 Leute zu betreuen [sic!] habe, vom Hilfsarbeiter bis zum Akademiker, wissen Sie …“.
Klar weiß ich, ich frage ja auch nur pro forma …
Wir alle dürfen also getrost gegen die „Vorschläge“ des hessischen Ministerpräsidenten sein, der die Erwerbslosen in das Ghetto des zweiten Arbeitsmarkts drängen will – was ihnen aber nicht hilft, sondern für sie nur eine Dequalifizierungsspirale in Gang setzt. LARS RIEBOLD
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