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Hallo, was für ein Leben wollen Sie führen?

Wo „globale Ethik“ draufsteht, ist „kulturelle Toleranz“ noch lange nicht drin – und umgekehrt: Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum präsentiert einen universalen Menschenrechtskatalog. Die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul behauptet, ihn längst verwirklicht zu haben

von DAVID LAUER

„Seit den legendären Wahlkämpfen, in denen der junge Günter Grass Schriftsteller und Intellektuelle für Willy Brandt mobilisierte …“, so schwelgt es den Lesern aus einem aktuellen Unterstützungsaufruf der SPD-Wahlkampfzentrale entgegen. Ja, das waren die goldenen Jahre, in denen die Sozialdemokratie sich eins fühlen durfte mit den kulturellen Eliten. Dann kam die ehemals neue Unübersichtlichkeit dazwischen und Intellektuelle, bei denen das Attribut „sozialdemokratisch“ Gähnen und abtörnende Assoziationen auslöste. Seither weiß die SPD, dass ihr guter Draht zu Geist- und Kulturschaffenden nicht naturgegeben ist und gepflegt sein will. Dazu dient das „Kulturforum der Sozialdemokratie“, zu dessen populärsten Veranstaltungen die Reihe „Philosophie und Politik“ gehört: Weltbekannte VertreterInnen der politischen Philosophie treffen zum Zweck des Austauschs zwischen Theorie und Praxis auf SPD-PolitikerInnen.

Die sechste Ausgabe dieser Reihe am vergangenen Samstag stand unter dem Titel „Globale Ethik und kulturelle Toleranz“. Im Berliner Willy-Brandt-Haus präsentierte sich Martha C. Nussbaum, Professorin für Recht und Ethik an der Universität Chicago, eine der wenigen PhilosophInnen, die ihre Konzepte auch in der politischen Praxis erprobt – zusammen mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen entwickelte sie für die Vereinten Nationen ein System zur vergleichenden Messung der Lebensqualität. Nussbaums Vortrag „Für einen sozialdemokratischen Aristotelismus“ erwies sich als Plädoyer für eine globale Ethik. Ihr capabilities approach genannter Ansatz versucht, durch empirischen Kulturvergleich Lebensbedingungen zu beschreiben, die einem Menschen gewährt werden müssen, damit sein Leben als menschenwürdig gelten kann. Die Liste reicht von der Möglichkeit, sich angemessen zu ernähren und frei zu bewegen, bis zu der Möglichkeit, sich einer Vorstellung des Guten zu verpflichten und dafür politisch zu streiten. So kommt Nussbaum zu einem universalen Menschenrechtskatalog, allerdings ohne Menschenrechtsvokabular.

Gegen relativistische Einwände, etwa dass mit einer solchen Liste fremden Kulturen eine westliche Idee des guten Lebens aufgenötigt werde, kann sie sich gut verteidigen. Denn sie bemüht keine abendländischen Großideen, sondern nur kaum bestreitbare Vermutungen der Art, dass Menschen überall auf der Welt es vorziehen würden, satt statt hungrig und gebildet statt ahnungslos zu sein – wenn man sie denn fragte. Dort, wo Menschen elementare capabilities verwehrt bleiben, werden sie in aller Regel nicht gefragt. Die Verwirklichung der elementaren menschlichen Fähigkeiten zu fördern bedeutet, Menschen selbst entscheiden zu lassen, was für ein Leben sie führen wollen.

Das gilt auch für traditionelle kulturelle Praktiken, für deren Bewahrung sich Menschen frei entscheiden können, die jedoch nicht an sich erhaltenswert sind. Nach Martha Nussbaums praxisnahen und doch präzisen Ausführungen wollte man glatt die Hoffnung der Vorsitzenden des Kulturforums, Wolfgang Thierse und Julian Nida-Rümelin, auf eine wirklich gemeinsame Debatte von Philosophen und Politikern teilen. Doch diese blieb leider weit gehend aus.

Das lag zunächst an der enttäuschenden Vorstellung von Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Als Antwort auf Nussbaums philosophische Anstöße hielt sie ein jedem Anflug von Selbstzweifeln abholdes Referat, nach dem die Politik der Bundesregierung seit jeher Nussbaums Standards verwirklicht habe. Auch die Ministerin plädierte für einen unerschrockenen Universalismus der Aufklärung und forderte zum Beispiel, islamische Staaten müssten die Überlegenheit der Trennung von Staat und Religion anerkennen. Doch gleich darauf säuselte sie den Bundespräsidenten herbei, man dürfe andere Kulturen nicht belehren und müsse Verschiedenheit als Bereicherung begreifen. Es schien nicht weiter aufgefallen zu sein, dass sich genau zwischen diesen beiden gedankenlos abgehakten Gemeinplätzen die Spannung zwischen „globaler Ethik“ und „kultureller Toleranz“ auftut, deren politische Vermittlung Thema der Tagung war. Wozu eigentlich Politik und Philosophie ins Gespräch bringen, wenn sich die Politik von Seiten ihrer Gäste so wenig irritieren lassen mag?

In der abschließenden Podiumsdiskussion ergriff dann auch noch die Berliner Universitätsphilosophie das Wort und zeigte sich auf ihre Weise zu einer gemeinsamen Debatte unfähig (dafür machte Wieczorek-Zeul einigen Boden gut).

Statt philosophische Kompetenz für eine politische Frage fruchtbar zu machen, produzierten Volker Gerhardt und Herbert Schnädelbach von der Humboldt-Universität in souveräner Ignorierung ihrer Umgebung gelehrte Überlegungen, ob Nussbaum ihren Ansatz ohne die Bemühung von Kant und/oder Hegel überhaupt zu begründen in der Lage sei. Allein Peter Bieri von der Freien Universität zeigte sich willens, Gedanken ohne philosophischen Ahnenkult zu entwickeln. Seiner Ansicht nach sei es schlicht unvorstellbar, dass Menschen sich tatsächlich aus freien Stücken und in voller Kenntnis der Konsequenzen gegen die Güter auf Nussbaums Liste entscheiden. Dieser Optimismus hätte Anlass zu einer spannenden Kontroverse werden können, aber dazu kam es nicht mehr. Wenn Philosophie und Politik sich treffen, heißt das noch lange nicht, dass sie miteinander reden.

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