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berlin buch boomErnst Robert Pietschs ReiseerinnerungenDrollig

Er benutzt Worte wie „drollig“, und das ohne jede Distanz. „Drollig“ ist bei ihm ein Wort, mit dem er sich über Kurioses belustigt, ohne die Verwendung des Wortes selbst drollig zu finden. Ernst Robert Pietsch ist 1928 verstorben, und im Jahre 1912, in dem er das Wort „drollig“ benutzt, ist es noch ein modernes Wort, ein Wort der Herablassung, ein Wort des selbstbewussten Bürgertums.

Pietsch war Kunstgärtner in Niederschlesien und offensichtlich ein heller Kopf. Seine handschriftlichen Aufzeichnungen zu seinen Reisen im Jahre 1908 und 1912 beweisen einen genauen Blick und eine große Aufgeschlossenheit für technische Errungenschaften. So beschreibt er etwa anlässlich eines Besuches bei seiner Tochter Bertha sehr detailliert auch den Berliner Flugplatz Johannisthal, auf dem sich der so naturverbundene Landschaftsgärtner ganz dem Anblick von Zeppelinen und frühen „Flugmaschinen“ hingab. „Ein zweiter Eindecker mit geraden Flugflächen, ein Fokker, wird auf den Flugplatz geschoben. Ganz in unserer Nähe macht er sich zum Aufflug bereit. Der Motor wird angelassen und pufft lustig darauf los. Der Pilot besteigt in der unförmigen Tracht eines Eskimos und mit großer Schutzbrille seinen Sitz. Der Motor pufft lustig weiter, doch der Propeller bewegt sich nicht. Ein Monteur setzt den Propeller in Bewegung. Der Pilot sitzt aufmerksam am Steuer, dreht und probiert, doch der Propeller steht wieder still, nur der Motor pufft weiter. Immer wieder setzt der Monteur die Flügel in Bewegung und springt eilig zurück, doch die Maschine hat durchaus keine Eile.“

Man sieht, dass Pietsch, obschon er seine Berichte mehrfach korrigierte, kein großer Stilist war. Seinen Aufzeichnungen zu den Reisen nach Helgoland und nach Schweden ist der private Charakter des Textes anzusehen. So beschreibt er liebevoll, wie die Tochter vorm falschen Aschinger-Restaurant wartet oder wie er bei der Überfahrt nach Schweden versehentlich in die „Opferreste“ von Seekranken hineingreift. Gewissermaßen sind dies Texte, die anstelle eines Urlaubsdia-Abends vorgetragen werden könnten. Damals waren sie nichts als kuriose Geschichten. Heute leben sie vor allem von der Unmittelbarkeit, in der sich das frühzeitliche Reiseerleben und das damals neue bürgerliche Selbstbewusstsein vermitteln. So etwas zu lesen macht sehr viel Spaß, obschon Pietsch nichts wirklich Aufregendes erlebt hat.

Die Bücher allerdings, in denen die Reiseaufzeichnungen von Pietsch zu lesen sind, gefallen weniger. Zwar verfügen sie über einen umfangreichen Anhang, in denen nicht nur fast alle im Text erscheinenden Phänomene erklärt werden und in dem Postkarten aus der damaligen Zeit präsentiert werden, doch leider konnte sich der Herausgeber der Reiseberichte, Stefan Wolter, in seinen umfangreichen Einleitungen nicht disziplinieren. Er, der Ururenkel Pietschens, gewinnt keinen Abstand zum Gegenstand seiner Betrachtung und verquickt aufs Fieseste sein eigenes familiengeschichtliches Begehren („Als wenige Stunden zuvor die 80-jährige Maria-Luise Hoffmann, Pietschs jüngste Enkelin, diese Handschriften in meine Hände gelegt hatte, schien es, als seien sie dort angelangt, wo sie hingehörten“) mit sozialhistorischen Betrachtungen.

Dabei ahmt Wolter dann auch noch – ob nun bewusst oder unbewusst – auf ganz seltsame Weise jenen bürgerlich-snobistischen Ton nach, der sich bei seinem Ururgroßvater noch aus der Verunsicherung des Reisenden erklärt, der jedoch bei dem heutigen jungen Historiker Wolter, in dessen Hände seitens der Familiengeschichte so viel Bestimmung gelegt worden ist, nicht einmal mehr „drollig“ ist. Das Problem so vieler Bücher tritt auch hier in Erscheinung: der eitle Kommentar verleidet einem völlig das Kommentierte.

JÖRG SUNDERMEIER

Ernst Robert Pietsch: „Reise nach Schweden und Dänemark im Jahre 1908“. 128 Seiten, 12,50 €; Ernst Robert Pietsch: „Reise nach Helgoland über Berlin und Bremen im Jahre 1912“. 143 Seiten, 12,50 €. Beide Hainholz Verlag, Göttingen 2001

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