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Vorsprung durch Biotechnik

Der Spitzensport wird heute als Teil der Unterhaltungsindustrie vermarktet. Damit die Leistung stimmt, werden Dopingpraktiken toleriert, statt sie konsequent zu bestrafen

Weder strenge Strafen noch die Freigabe lösen das Drogenproblem. Beim Doping ist das nicht anders

Doping ist so alt wie der Wettkampfsport. Die Helden, Halbgötter und Olympiasieger der Antike aßen Bullen- und Eberhoden. Heute zeigt die Forschung, dass der Konsum von nicht kastriertem Eber zu einem positiven Dopingbefund führt. Die nordmexikanischen Tarahumara, die aus kultischen Anlässen 24 Stunden am Stück laufen, verwenden Peyote, ein Kakteen-Halluzinogen, das die Schmerzschwelle verschiebt – und heute auf dem Dopingindex steht. Zu Beginn der Olympischen Spiele Ende des 19. Jh. verwendeten die Langstreckenläufer Strychnin: Wer zu gering dosiert, stößt nur auf; wer zu viel nimmt, ist tot. Doch nimmt man es für einige Zeit kontinuierlich, muss man immer mehr nehmen – die individuelle Dosierung wird somit zur Kunst. Was wir heute als „Doping“ bezeichnen, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Trainingslehrbüchern noch unter „Diätetik“, Ernährungslehre, geführt.

Erst seit 1972 wird bei sportlichen Großereignissen systematisch nach Spuren leistungssteigernder Substanzen im Urin gesucht; inzwischen haben sich so langsam auch alle Nationen darauf verständigt, dass zusätzliche Trainingskontrollen nichts schaden. Dopinglisten definieren, welche Substanzen verboten sind – und in welchen Mengen. Doch erfassen diese Listen immer nur die Drogen der Vergangenheit; gegen Neuentwicklungen sind sie machtlos.

Zur Logik des Spitzensports gehört es, alles zu unternehmen, um Erfolg zu haben. 1976 wurde – finanziert aus Mitteln der bundesdeutschen Steuerzahler – bei den Olympischen Spielen in Montreal der Darm von Schwimmern und Fünfkämpfern mit Druckluft aufgeblasen und versiegelt. Bei Trainingsversuchen hatte sich die Wasserlage und damit die Schwimmleistung deutlich verbessert. In Montreal klappte dieses eklige Verfahren nur deshalb nicht, weil der Weg vom Umkleideraum zum Becken zu lang war und sich der Pfropfen löste.

Das Ergebnis war jedoch, dass anschließend auch die Zufuhr von physiologischen Mitteln auf unphysiologischem Wege verboten wurde. Das hat die Dauerleister jedoch nicht davon abgehalten, sich bei den Olympischen Spielen 1984 durch die Transfusion von Eigenblut einen Vorteil zu verschaffen. Im Jahr darauf wurde auch das ausdrücklich verboten.

Durch den Niedergang der DDR wissen wir recht viel über die empfohlenen Dosierungen dort, relativ wenig jedoch von den realen Dosierungen. Gleiches gilt aber für die westlichen Länder: Auch hier weiß man zwar viel durch die veröffentlichte Dopingforschung, aber nur eher zufällig von der wirklichen Dosierung in der einzelnen Trainingsgruppe.

Die DDR hatte die Verwendung von nur einer einzigen Dopingsubstanz (Oral-Turinabol) durch groß angelegte Versuche perfektioniert – und dabei die Gesundheit ihrer Sportlerinnen und Sportler aufs Spiel gesetzt. Im Westen dagegen setzte man auf Vielfalt: So verwenden auch 14-jährige Footballspieler in den USA noch heute Anabolika, aber es gibt wenigstens 16 verschiedene Kategorien mit je verschiedenen Wirkungen und Nebenwirkungen. Verwendet man, wie in der DDR, immer dasselbe, muss man kontinuierlich höher dosieren: wie vor hundert Jahren beim Strychnin. Wechselt man hingegen die Dopingmittel, kommt man mit niedrigeren Dosierungen und damit – in der Regel – einem geringeren gesundheitlichen Risiko aus. Ergänzt man seine Mischung dann noch vor den Wettkämpfen durch das (wesentlich teurere) Wachstumshormon, wird man auch nicht so leicht von den Kontrolleuren erwischt.

Nicht alle Sportler dopen. Seit 1972 werden Olympiateilnehmer regelmäßig befragt, was sie denn machen würden, wenn sie ein Medikament bekommen könnten, das ihnen vier Jahre lang einen Platz an der Weltspitze und bei den nächsten Olympischen Spielen den Sieg verspricht, sie anschließend aber an dem Medikament sofort sterben würden. Seit 30 Jahren sagen kontinuierlich nur ca. 50 Prozent der Sportler „Nein, danke!“ und der Rest „Her damit!“.

Niemand versteht die Logik der Dopingverbote. Testosteron ist verboten, doch von der Weltgesundheitsorganisation wird es als Verhütungsmittel für den Mann empfohlen. Die „Pille“ für die Frau wirkt auch leistungssteigernd (weil sie die Erholung beschleunigt), ist aber erlaubt. Drei starke Tassen Kaffee vor dem Wettkampf sind verboten – aber Boxen, viel gefährlicher, ist seit dem Beginn der Spiele eine olympische Sportart. Weder Leistungssteigerung noch Gesundheitsschädigung scheinen also Dopingverbote zu begründen.

Auffällig ist, dass die Dopingkontrollen in dem Moment zugenommen haben, als die Amateurbestimmungen gefallen sind. Bei diesen ging es vor allem um die Macht der Verbände gegenüber den Athleten. Die Verbände definierten, wer als Amateur starten durfte und wer nicht. Wer immer artig war, der durfte, wer nicht, wurde unter Androhung von Wettkampfsperren weggemobbt. Sollte das bei den Dopingkontrollen anders sein?

Bei den Olympischen Winterspielen haben wir es heute mit Anabolika zu tun (dies gilt vor allem für Eislaufsportarten), mit Erythropoietin (EPO) und dem neuen NESP (bei den Skilangläufern und Biathleten), was die Menge der roten Blutkörperchen und damit die Sauerstofftransportfähigkeit des Blutes deutlich vermehrt bzw. verbessert.

Natürlich wird kontrolliert, aber EPO kann man nur maximal sechs Tage nach der Einnahme nachweisen, es steigert jedoch 21 Tage lang die Leistung. Seit Dezember 1998 ist darüber hinaus bekannt, dass NESP eine andere Substanz als EPO ist, man also einen anderen Test braucht. Und obwohl der Test eigentlich einfacher sein müsste, wird er erst bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 verwendet werden.

Die dopenden Athleten verwenden die Medikamente, sobald sie irgendwo auf der Welt verfügbar sind – die Antidopingforschung beginnt jedoch erst, wenn das Medikament im Land der Forscher zugelassen ist.

Am 4. Dezember 2001 ist nun die erste Genmanipulation als amerikanisches Patent Nr. 6325998 bestätigt worden. Sie wirkt wie EPO, hat aber den „Vorteil“, dass man nur einmal die DNA verändert, so dass der Körper eine Überproduktion an EPO hat. Dies ist ein wichtiges Verfahren bei Anämie – und wird künftigen Generationen von Sportlern den nächsten Vorsprung vor den Kontrolleuren verschaffen. Es wäre jedoch fatal, wenn man die Jagd auf die Dopingmafia aufgeben würde. Es gibt genügend Dopingsubstanzen, die so gefährlich sind, dass man Sportler vor ihnen warnen, wenn nicht schützen muss. Aus der Drogenszene weiß man, dass weder strenge Strafen noch die Freigabe das Drogenproblem lösen können. Beim Doping ist das nicht anders.

Der ehrliche Umgang mit dem Problem hilft jedoch weiter. Hierzu gehört, dass man sich auch fragen muss, warum so viele Verbände augenzwinkernd Dopingpraktiken tolerieren und warum Olympianormen in manchen Sportarten ohne Doping gar nicht erreichbar sind. Über die Behandlung von Spätfolgen von Heroinmissbrauch weiß man viel mehr als über die Behandlung der Folgen von kontinuierlichem Doping mit Anabolika.

Was wir heute Doping nennen, hieß vor hundert Jahren in den Trainingsbüchern noch Ernährungslehre

Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass man akzeptiert, dass Sportlerinnen und Sportler sich (für Volk und Vaterland?) dopen und dass man ihnen bei der Rehabilitation helfen muss. Wer über die Folgen von Heroinmissbrauch forscht, begünstigt nicht den Heroinkonsum. Wer aber heute über Folgen von Anabolikakonsum arbeitet, wird als „Fachdoper“ gebrandmarkt und hat Schwierigkeiten, öffentliche Forschungsmittel zu bekommen.

Spitzensport wird durch die Bedingungen der Unterhaltungsindustrie geprägt. 1998 waren nach einer repräsentativen Gallup-Umfrage fast 90 Prozent der Franzosen überzeugt, dass die eigene Nationalmannschaft durch Doping Fußballweltmeister geworden war – aber 100 Prozent der Franzosen haben sich darüber gefreut. Und hätten nicht auch die meisten deutschen Zuschauer lieber eine gedopte deutsche Mannschaft grandios siegen sehen als eine ungedopte peinlich herumkicken?

Bei der Verwendung von immer wieder neuen hochtechnologischen Dopingmitteln in den Industrienationen machen sich die typischen Globalisierungsfolgen bemerkbar: Die Länder mit einer starken Biotechnologie bestimmen das Dopinggeschehen. Bis die Mittel bei den Entwicklungsländern angekommen sind, sind die Dopingfahnder auch schon zur Stelle. Mit Doping können die westlichen Industrienationen in manchen Sportarten ihren Vorsprung behaupten – „und das ist gut so“, wird jeder Veranstalter und Fernsehsender bestätigen.

ARND KRÜGER

1978–80 Professor im Arbeitsbereich Training und Bewegung des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Hamburg, seitdem Prof. für Sportwissenschaft in Göttingen. 9 x Deutscher Meister, Halbfinale Olympische Spiele 1968 (1.500 m).

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