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Probleme mit dem Aggregat

Rund 300.000 Berliner ließen es sich am Sonntag nicht nehmen, einer fremdländischen Kultur beizuwohnen, und besuchten den zweiten Berliner Karnevalsumzug. Nur die Stimmung am Straßenrand war alles andere als rheinisch ausgelassen

von JAN ROSENKRANZ

1924 wurde der berühmte Bergsteiger George Mallory gefragt, warum er denn den Mount Everest besteigen wolle. Mallory antwortete: „Einfach weil es ihn gibt.“ Das ist zwar kein trifftiger Grund, den höchsten Berg der Erde zu bezwingen, aber für manche Unternehmungen findet sich eben kein besserer. Die Mehrheit der etwa 300.000 Schaulustigen, die gestern dem Berliner Karnvalsumzugs beiwohnten, hatten vermutlich auch keinen anständigen Grund für ihr Kommen gewusst. Nur zum Feiern waren sie offensichtlich nicht erschienen.

Weniger griesgrämig als sonst, aber auch nicht mehr verkleidet als üblich stehen sie Unter den Linden und recken, um mehr Kamelle zu fangen, den schrabbeligen Festwagen ihre umgedrehten Regenschirme entgegen. Aus den Boxen dröhnt schon wieder das schlimme Lied: „Die Hände zum Himmel …“

Der erste Wagen ist der schönste, aber das will nichts heißen. Auf der Ladefläche lümmelt sich Weiße trinkend ein Berliner Bär aus Pappmaché. Vor ihm verbeugt sich der Fernsehturm und schenkt nach. Hinter ihm preist der Funkturm vergebens Cocktails an. Vielleicht passt es sogar zum Motto des Umzugs: „Hamm wa noch ne Mark?“ Egal, denn die restlichen Wagen machen ohnehin mehr Werbung für Kaufhäuser, Kneipen und Ostseefähren.

Vier Stunden früher: Bernd Koeleman rückt nervös seine Clownsmütze zurecht. Er veranstaltet heute den „weltweit ersten KarnevalSkate in Berlin“ und hat gehofft, das sei für 2.000 Berliner Grund genug ans Brandenburger Tor zu kommen, trotz 6 Euro Gebühr. „Weil das keine Demo, sondern eine Veranstaltung ist, hat die Anmeldung richtig Geld gekostet“, sagte Koeleman. Leider hat es schon am frühen Morgen das erste Mal geregnet und die fünf roten Kleintransporter, die das Gepäck der rollenden Jecken zum Alexanderplatz schaffen sollen, bleiben leer. Lange nach 10.11 Uhr gehen 30 Skater auf den Kurs, unter ihnen vier Clown und drei Läufer, die ein grünes Leibchen tragen mit der Aufschrift „Polizei“.

Neben dem Reichstag sammeln sich derweil die ersten der 60 Festwagen. Eilig werden Lametta-Fransen an die Wagen getackert und Luftballons aufgeblasen. Die Preussengarde formiert sich probehalber hinter einem schmucklosen Brauerei-Laster. Man trägt blaue Uniformjacken und Pickelhaube. „Alle herhören, nachher jibt’s wieder Chaos“, brüllt der Gardeoffizier. „Rico schwenkt die Fahne, Sven-Christian, wo stehst du?“ Sven-Christian weiß es nicht. Dann wird Musik aufgedreht: „Das sind nicht zwanzig Zentimeter, kleiner Peter.“

Der Tieflader der „Narrenkappen“ ist lila gestrichen und nur dezent geschmückt. Die Goldfolie, die das mitgeführte Dixi-Klo verhüllen sollte, hat der Wind bereits zerrissen. „Wir haben den Wagen erst vor zwei Tagen gemietet“, sagt Rolf Klein, der Ehrensenator des Vereins, und weil er eigentlich Düsseldorfer ist, sagt er noch: „It hätt noch immer joot jejangen.“

Und es ist ja auch erst der zweite Umzug dieser Art. Auf der bedruckten Plastikplane, die den Wagen des „Lions-Club“ schmückt, prangt die Aufschrift: „Berlin Hajo“. „Heißt das nicht so?“, fragt der unverkleidete Herr ahnungslos. Nein, denn der offizielle Berliner Karnevalsruf heißt „Heijo“, was so viel bedeutet wie „Heiterkeit und Jokus“ und eben nicht „Hajo“, was höchstens „Hans-Joachim“ heißen kann. „Das muss sich erst noch einbürgern“, sagt der Mann entschudigend und wuselt hektisch weiter.

Die Funkenmariechen tanzen sich warm, die Festwagen füllen sich und kurz vor dem Start geraten wenigstens die 3.000 Mitwirkenden in Wallung. Sie tanzen und grölen und trinken jede Menge Bier. Nur Bützchen gibt es nicht.

Zwischen den neuen Bundestagsgebäuden warten die Schaulustigen schweigend und im lockeren Spalier auf den Zug, der schon seit 12.11 Uhr in Bewegung sein soll. Nur die Reiterstaffel der Polizei ist da und lässt sich beklatschen. Dann kommt der Zug. Kamelle und Bierdeckel fliegen, doch aus den Boxen brüllt der „Anton aus Tirol“ vergebens – Stimmung null. Wagen 1 biegt samt Zugmarschall gerade in die Straße Unter den Linden ein, als er plötzlich stehen bleibt. Probleme mit dem Aggregat, Musik aus. Man versucht zu reparieren, muss trotzdem weiterfahren, auch ohne Musik. Der Zugmarschall lächelt qualvoll. Am Gendarmenmarkt gibt es erste Auflösungstendenzen. Es ist noch weit bis zum Roten Rathaus, doch das Spalier entsteht eher zufällig. Immerhin: 50.000 mehr Zuschauer als im letzten Jahr. Und wahrscheinlich werden im nächsten Jahr noch mehr kommen. Einfach weil es ihn gibt, den Berliner Karnevalsumzug.

Der berühmte Bergsteiger George Mallory wurde übrigens am Nordostgrat des Everest zum letzten Mal gesehen. Manchmal ist es vielleicht doch besser, nicht überall hinzugehen, wo es was gibt.

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