Präzision und Experiment

■ Ein Reichstags(mit)verhüller in Bremen: Hartmut Ayrle gehört zur neuen Generation der Lehrenden am Fachbereich Architektur der Hochschule

Stellen Sie sich vor: die gläsernen Schirme des Bremer Domshof-Forums, nur mindestens doppelt so hoch und auch nicht in die Ecke eines Platzes gestellt, sondern als dichtes Feld einen ganzen Platz überdachend – keinen geringeren als den Berliner Schlossplatz.

Stellen Sie sich weiter vor: die Haut dieser Schirme sei nicht aus Glas, sondern aus einem transparenten textilen Material, und die über dreißig Meter hohen Schirme ließen sich auf Wunsch wie ein normaler Schirm schließen und in über dreißig Meter tief in den Boden reichende Köcher versenken, so dass nichts mehr zu sehen ist. Sie haben gerade vor ihrem geistigen Auge einen Wettbewerbsentwurf des Megastars der High-Tech-Architektur, Norman Foster, nachvollzogen.

Aber wer hat dafür gesorgt, dass diese Idee auch technisch und in wirtschaftlich vertretbaren Dimensionen machbar wäre? Es ist der gleiche Mann, der 1995 die berühmte Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude technisch umgesetzt hat. Denn was so locker und wie spontan gemacht an dieser künstlerischen Installation wirkte, war in Wahrheit eine technologische Präzisionsarbeit von höchstem Schwierigkeitsgrad.

Dieser Mann heißt Hartmut Ayrle (sprich: Eierle), ist Dr.-Ing. und Mitbetreiber eines Büros für textile Architektur in Konstanz – und seit etwa einem Jahr Architekturprofessor an der Hochschule Bremen, Arbeitsfeld: Tragwerkslehre, Entwerfen, Bauphysik. Der 42-jährige stellte jetzt im Vortragsraum der Architektenkammer seine bisherigen Arbeiten und sein Lehrkonzept vor.

Am Fachbereich Architektur der Hochschule vollzieht sich gerade ein Generationswechsel. In den nächsten Jahren wird der gesamte Lehrkörper altersbedingt ausgetauscht sein. Die Architektenkammer nimmt diese Situation des Umbruchs zum Anlass – indem sie den neuen Architekten (drei sind es bereits) ein Forum bietet –, das etwas verkrampfte Verhältnis zwischen lokaler Architektenschaft und Hochschule zu lockern und konstruktiv zu wenden.

Der Dissens liegt – verkürzt dargestellt – in den unterschiedlichen Anforderungsprofilen an die FH-NachwuchsarchitektInnen: Sollen vor allem aktuell am Markt gefragte Spezialis-ten ausgebildet werden, oder soll die Ausbildung breiter angelegt sein, mit einem Schwerpunkt in der Entwicklung entwurflicher Fähigkeiten?

Die löbliche Absicht der Kammer, neue Akzente in der Ausbildung vorzustellen, stieß bei ihrer Klientel nur auf schwache Resonanz. So fanden sich bei Ayrles Vortrag überwiegend Studierende ein. Dabei bietet gerade dieser Architekt gute Ansätze für neue Synthesen zwischen Ausbildung und Praxis. Ayrle definiert Architektur zunächst auf einer präzisen technisch-rationalen Grundlage. Seine mehrjährige Bauforschungstätigkeit (Schwerpunkt: Optimierung von Installationsleitungen in flexiblen Bausystemen) sowie zuletzt seine Praxis als Spezialist für textiles Bauen bestätigen dies.

Die Forschungserfahrung, der Umgang mit den ungewöhnlichen textilen Baustoffen (meist PVC- oder teflonbeschichtete Glasfasergewebe) sowie die Möglichkeit der Generierung neuer architektonischer Strukturen durch Computereinsatz, haben in Ayrle aber auch eine experimentierfreudige und offene Haltung geformt. Dieser Mix aus Präzision und Experiment soll insbesondere die Lehre prägen.

Eine Art Baulaboratorium an der Bremer Hochschule zu gründen, in dem die Studierenden sinnlich anschaulich mit Konstruktion und Material experimentieren, in dem aber auch seriöse Bauforschungsaufträge durchgeführt werden könnten, wäre sein Ideal. Dass die Synthese von Form und Technik in den vorgestellten eigenen Werken formal nicht immer überzeugte – zum Beispiel bei einem wigwamartigen Pavillon in einem Kurpark –, sollte schließlich nicht unerwähnt bleiben.

Ayrle, dessen Büro inzwischen europaweit bei ungewöhnlichen, meist temporären Bauaufgaben gefragt ist (verschiedene Bauten bei der Expo in Hannover, Projekte für die Expo 02 in der Schweiz, ein Ausstellungssystem für Opel), könnte, sollte er sich mittelfristig in Bremen nicht nur als Lehrer, sondern als bauender Architekt etablieren, an eine kurze, fast schon vergessene Phase in der jüngeren Bremischen Baugeschichte anknüpfen: In den sechziger Jahren gab es verschiedene Projekte einheimischer Architekten wie Hans Budde, Carsten Schröck und Rolf Störmer, die auf einer Zusammenarbeit mit dem Guru des Leichtbaus, Frei Otto, fußten. Das spektakulärste sah eine transparente Überdachung des gesamten Neustädter Hafens vor. Einziges gebautes Produkt dieser Liaison ist Schröcks St.-Lukas-Kirche in Grolland geblieben. In Bremen tut man sich schwer mit dem Leichtbau. Eberhard Syring

Den nächsten Vortrag dieser Reihe hält Ingo Lütkemeyer am 14. März um 20 Uhr im Architektenhaus, Geeren 41