: Ab nach Fernost!
Wie der Versuch, eine sozialistische autonome jüdische Sowjetrepublik am Amur zu bauen, an den politischen Verhältnissen der Stalinzeit scheiterte: „L’Chayim, Comrade Stalin“ (Forum) führt von der Krim nach Birobidschan, dem „roten Palästina“
von CHRISTIAN SEMLER
„L’Chayim, Comrade Stalin“ beginnt als Roadmovie mit einer Endlosfahrt in der Transsibirischen Eisenbahn – quer durch Eis und Tundra geht die Reise – und endet als Elegie auf Birobidschan, dem „roten Palästina“ in Fernost. Nach dem Willen der Sowjetregierung sollte hier eine sozialistische autonome Republik der Juden entstehen.
Der amerikanische Dokumentarist Yale Strom hat für seine Erkundungsfahrt in die Geschichte dieses gescheiterten Experiments auf ein überraschend reiches zeitgenössisches Filmmaterial zurückgreifen können: Dokumentarisches über den Aufbau in den Dreißigerjahren, schwungvolle Sowjetpropaganda, darunter eine hinreißende, im sozialistisch-realistischen Duktus gehaltene Posse des Moskauer jüdischen Theaters, schließlich die Zeitzeugen, meist Kinder der Neuankömmlinge.
Das ganze Unternehmen wird von Kurzinterviews eingerahmt, in denen sich die heutigen Russen als vollständig ignorant dem damaligen Projekt gegenüber erweisen. Dafür aber sind sie randvoll mit antisemitischen Stereotypen. Gedolmetscht hat übrigens der Enkel jenes Michail Kalinin (heute noch verewigt in Kaliningrad), der, sonst ein getreuer Paladin Stalins, sich in den Zwanzigerjahren für eine autonome jüdische Republik auf der Krim stark gemacht hat. Der Plan verfiel damals der Ablehnung, obwohl oder gerade weil die Voraussetzungen seiner Verwirklichung unendlich viel günstiger waren als im Fall Birobidschan. Denn die Sowjetführung fürchtete eine allzu selbstständige Entwicklung einer jüdischen Krim-Republik. Mit dem Birobidschan-Projekt stellte sie die jüdischen Sowjetmenschen vor die Alternative: entweder ab nach Fernost oder Assimilation in die russische Kultur.
Strom geht es nicht so sehr um die sowjetische Politik in der „jüdischen Frage“ (darüber kann man sich ausgezeichnet in Antje Kuchenbeckers Arbeit „Zionismus ohne Zion“ informieren). Er will etwas transportieren vom Enthusiasmus und der Opferbereitschaft tausender jüdischer Linker, die, meist ohne die geringste fachliche Vorbildung, daran gingen, sich eine „Heimstatt“ am Amur zu schaffen.
Was kaum jemand weiß: Dieser Großversuch erfolgte unter internationaler Beteiligung, darunter der amerikanischen Hilfsorganisation Ikor, die Geld sammelte, Landmaschinen kaufte, Freiwillige zur roten Fahne rief, die Überfahrten organisierte. Noch in den Berichten alter amerikanischer Damen schimmert etwas durch von dem großen Abenteuer, das sie als Kinder (und spätere Rückkehrerinnen in die USA) erlebten.
So glücklich verliefen freilich nicht die Schicksale aller jüdischen Neusiedler. Sehr viele zogen es schon in den Dreißigerjahren wieder vor abzureisen, für das Gros der jüdisch-sowjetischen Bevölkerung war Birobidschan sowieso kein Thema gewesen. Dann kamen 1936 bis 1939 die Jahre des großen Terrors, von denen auch das autonome Gebiet nicht verschont blieb.
Schließlich die „schwarzen Jahre“ 1949 bis 1953, als unter dem Zeichen des Kampfes gegen den „Kosmopolitismus“ die jiddischen Bildungseinrichtungen Birobidschans geschlossen, das Jiddische verpönt und die jiddischen Intellektuellen verhaftet oder gemaßregelt wurden. Was blieb: eine jüdische Republik fast ohne Juden.
„L’Chayim, Comrade Stalin“. Regie: Yale Strom. USA 2001, 90 Min.
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