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„Die Bergkultur verteidigen“

„Warum soll es nicht einen Lebensraum geben, der gefährlich ist?“

Interview BERNHARD PÖTTER

taz: Herr Messner, wann waren Sie zuletzt auf einem überfüllten Gipfel?

Reinhold Messner: Im letzten Sommer war ich in den Alpen mit einem Kamerateam auf dem Gipfel, wo viele andere Bergsteiger waren. Aber ich darf mich nicht beschweren, wir waren auch zu mehreren auf den Berg gestiegen. In den Alpen gibt es entweder 50 Leute auf einem Fleck oder monatelang keinen Menschen.

Sind die Alpen zu voll?

Nein, sie sind gleichzeitig zu voll und zu leer.Die Zonen, die keinen Zuspruch haben, werden verlassen, weil die Leute in den Tälern nicht überleben können. Aber wir brauchen die inzwischen 15 Millionen Alpenbewohner, um die Kulturlandschaften dort zu pflegen.

Was ist das größte Problem der Berge?

In den Alpen die Landwirtschaft. Man hat den Alpenbauern in den letzten 50 Jahren suggeriert, sie müssten in Konkurrenz zu den Bauern der Tiefebene arbeiten. Sie haben inzwischen Kühe mit 10.000 Litern Milch im Stall stehen und produzieren mit Fremdfutter zu viel Milch, zu viel Mist. Der Bauer auf dem Berg kann nie mit dem Bauern aus dem Tal konkurrieren.

Aber gerade wenn man die naturnahe Landwirtschaft unterstützen will, muss man die Bergbauern subventionieren.

Ja. Aber sollten wir nicht die Bauern für ihre Landschaftspflege unterstützen? Produkte zu subventionieren heißt Masse fördern, nicht Qualität.

Also eine Agrarwende auch in den Bergen?

Es ist höchste Zeit dafür. EU-Agrarkommissar Fischler will ja in Zukunft mehr die bearbeitete Fläche subventionieren. Die Bergbauern müssen ihre Milch nicht von der Alm in die Molkerei, dann in die Städte und von dort aus nach Süditalien bringen. Wir müssen die lokal erzeugten Produkte veredeln und regional vermarkten. „Kleine Kreisläufe“ heißt die Schlüsselstrategie.

Ich hätte gedacht, Sie nennen als größtes Problem der Berge den Tourismus.

Nein. Der Tourismus wird in seiner Schädlichkeit weit überschätzt. Nur ein kleiner Teil der Alpen wird intensiv touristisch genutzt, übernutzt, dass Landschaft und Umwelt leiden. Wenn man zwanzigmal so viele Touristen reinholt, wie Einheimische am Ort leben, ist das zu viel. Hotelburgen, Straßen, Lifte werden gebaut. Nur ein kleiner Teil der Alpen ist heute mit dieser Infrastruktur überzogen. An vielen Punkten, an denen sich der Tourismus konzentriert, haben wir keinen ländlichen Raum mehr, sondern Stadtkultur. Ein Dorf mit 5.000 Einwohnern verliert so seinen Charakter. Inzwischen nimmt die Einwohnerzahl in den Alpen zu, und zwar schneller als in den Niederungen. Es gibt also Menschen, die in die Berge ziehen. Aber sie bevorzugen den städtischen Raum, nicht den ländlichen.

Wo sind die Alpen denn zu leer?

In den Seealpen, den lombardischen Alpen, im Nordosten Italiens, teilweise in Slowenien. Ich habe in diesen Tagen ein Projekt in Belluno angefangen. Ein Gebiet in den südlichen Dolomiten, das wirtschaftlich zusammenbricht, soll wiederbelebt werden. Noch vor 50 Jahren lebten in Cibiana 2000 Leute. Heute sind es noch 500. Die Schule soll aufgegeben werden, es gibt kein Geschäft und kein Gasthaus mehr. Wenn die alten Leute sterben, ist das Dorf leer. Diesen Prozess der Verödung will ich umdrehen.

Die Alpen brauchen also den Tourimus?

Ja. Tourismus ist auf lange Sicht die einzige nachhaltige Entwicklungsform für die Alpen. Sie können doch nicht auf 2.000 Metern Industrie ansiedeln.

Trotzdem fordern Sie den Stopp der Erschließung über der Baumgrenze.

Ja, denn auch der Tourismus muss nachhaltig gestaltet werden. Verzahnt mit der lokalen Kultur und der lokalen Landwirtschaft hat er eine große Chance. Ich kann doch eine radikale Erschließung des Hochgebirges nicht gutheißen. Wir tragen damit unsere Stadtkultur ins Gebirge. Wo massiv investiert wird, wird Infrastruktur geschaffen, die eine Menge Leute anziehen soll, um die Investitionen zu rechtfertigen. Das belastet das ökologische Gleichgewicht. Aber die Werte, die den Bergen innewohnen, sind die Stille, die Ruhe, die Erhabenheit und nicht Aggression, Hektik, Lärm. Das haben wir in der Stadt. Also, Tourismus – ja; die Frage ist, wie. Es gilt, die Bergkultur zu verteidigen.

Aber die Städter fahren in die Berge. Suchen die dort nicht ihre Kultur, die „Bergdisko“?

Nur vordergründig, nicht in ihrer Sehnsucht. Die Städter sind als Touristen völlig naiv. Der Alpentourismus hat mit der Industrialisierung angefangen, zuerst in England, dann Frankreich, Italien, Deutschland, Japan. Dort sind die Menschen zuerst in die Stille aufgebrochen. Um ihre Freizeit in den Bergen zu verbringen, vor Lärm und Hektik zu fliehen, in der Natur zu sein. Aber die Menschen in den Alpen haben gemerkt, die Städter lieben es auch, wenn man ihnen eine „Als-ob-Natur“ vorgaukelt. Damit entstand der Disneyland-Tourismus. Dagegen wehre ich mich. Der macht kurzfristig Profit, aber vieles kaputt, Infrastrukturen bleiben am Ende als Ruinen zurück. Wenn Investoren und Touristen ins nächste Tal weiterziehen, auf der Suche nach der Erhabenheit der Natur, werden die Alpen Stück für Stück zerstört.

Da sagen die Leute: Der Messner ist elitär, der war auf allen Bergen, aber wir dürfen nicht rauf.

Warum können wir uns nicht darauf einigen, dass für Kinder, Alte und Behinderte genug Infrastrukturen vorhanden sind? Und alle anderen mögen so weit gehen, wie es ihnen die Erfahrung, das Können und die Kraft erlauben. Dann erfahren sie die Natur. Ich erfahre die Größe der Berge doch nicht, wenn ich mit der Seilbahn auf den Montblanc rauffahre. Es geht immer nur um eines: die Auseinandersetzung mit Gefahr, Größe, Weite, Schnee, Stille, Steinschlag, dem Berg. Wir erleben uns intensiv, wenn wir uns den Gefahren konkret aussetzen. Wenn wir in Eigenverantwortung am Berg sind und nicht von Maschinen hinaufgebaggert werden.

Sie haben durch Bücher und Filme zur Faszination der Berge sehr beigetragen. Denken Sie manchmal: „Hätte ich doch ein paar Bücher weniger geschrieben, dann hätte ich jetzt meine Ruhe auf den Gipfeln.“?

Nein, im Gegenteil. Ich habe auch immer Wert auf das Wie gelegt und würde mich freuen, wenn meine Bücher richtig gelesen würden. Bei jedem meiner Vorträge kommt jemand und sagt: Sie waren ja auch auf dem Mount Everest. Ja, ich bin da raufgestiegen, aber anders als heute üblich. Ohne Infrastruktur, ohne Sauerstoffgerät. Ich war mutterseelenallein am Berg. Ich gehe immer dorthin, wo die vielen anderen nicht sind.

Inzwischen wird auch am Everest gedrängelt.

Und wie! Der Mount Everest ist der Prototyp eines Berges, der zur Handelsware geworden ist. Wenn man eine Infrastruktur aufbaut, die Millionen von Dollar kostet, braucht man eben hunderte von Touristen, die sie bezahlen. Das Drängeln am Everest wird aufhören, wenn der Berg seine Ausstrahlung verloren hat.

Ohne Infrastruktur ist es für die meisten Bergsteiger zu gefährlich.

„Der Tourismus wird in seiner Schädlichkeit weit überschätzt.“

Das Leben am Berg ist nun mal gefährlich. Gefahr und Stille gehören zum Berg. Wir sind zwar eine Gesellschaft, die ihr Habitat immer sicherer macht, warum aber soll es nicht einen Lebensraum geben, der gefährlich ist?

Sie sagen, über die Berge könne man keine Ökodebatte führen. Warum nicht?

Ist es ökologisch betrachtet vielleicht besser, wenn die Bergbauern ihre Höfe aufgeben und in die Ballungszentren ziehen? Damit verlören wir diese Kulturlandschaften. Und gibt es Arbeit für die Bergbauern in der Stadt? Wenn wir die Alpenbewohner aber in den Bergen halten wollen, müssen wir Landwirtschaft, Kultur und Tourismus dort zusammenbringen. Und wir müssen sicherstellen, dass die Alpen langfristig ein Lebensraum für Mensch, Tier und Pflanze bleiben. Wir wissen inzwischen, dass eine Alpenwiese, die einmal im Jahr gemäht wird, mehr Pflanzen und Tiere beherbergt als eine Wildwiese. Wenn wir die Alpen auf das Ende der Eiszeit zurückführen, bevor die menschliche Besiedlung begann, wird die Artenvielfalt weitaus geringer.

Ein großes Problem in den Alpen ist der Verkehr, vor allem der Transit. Sehen Sie da eine Lösung?

In Europa hat die Diskussion darüber nicht ehrlich angefangen. Hier in Italien werden die Autobahnkonzessionen mit der Auflage vergeben, neue Autobahnen zu bauen. Ich habe als Abgeordneter im Europäischen Parlament der EU-Kommission die Frage gestellt, ob diese Art der Vergabe und das Fehlen einer europaweiten Ausschreibung legal ist.

Die Kommission hat das verneint. Nun ist vorgeschrieben, dass mit der Konzessionen für die Brennerautobahn der Betreiber verpflichtet wird, mit den Gewinnen den Schienenverkehr zu finanzieren. Dafür werde ich in Südtirol massiv angegriffen von jenen, die angeblich den Transitverkehr auf die Schiene verlagern wollen.

Dahinter stehen ja starke wirtschaftliche Interessen. Wie geht man dagegen vor?

Die lokalen Regierungen müssen endlich handeln. Es muss klar sein: Wer heute im Gebirge eine Autobahn baut, wird zum Totengräber des Tourismus in dieser Gegend. Aber Politiker schielen nach Mehrheiten. Ich glaube den allermeisten kein Wort.

Aber Sie sind inzwischen selbst Politiker.

Dabei habe ich ja erfahren, wie das Volk belogen wird. Wenn man etwas verändern will, muss man selbst handeln. Da hilft keine europäische Politik und keine nationale. Selber machen und dabei lernen, heißt mein Zugang. Die Alpenbewohner müssen Alternativen entwickeln. Wie Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Tourismus zusammen funktioneren sollen, kann nur in Versuchen erarbeitet werden. Immer wieder. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir untergehen.

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