: Titanic noch mal versenken
Politisch geerdet und doch hoch animiert und ambitioniert: Der Zeichentrickfilm „Spirited Away“ des Japaners Hayao Miyazaki erhielt einen Goldenen Bären
Sie wollen „Titanic“ schlagen. Seitdem die Ghibli-Studios vergangenen Juli „Spirited Away“ von Hayao Miyazaki in die japanischen Kinos gebracht haben, schafft der Animationsfilm ständig neue Rekorde. In Japan haben an die 19 Millionen Zuschauer die Geschichte über die zehnjährige Chihiro gesehen, die in einem von Geistern besuchten Badehaus ihre in Schweine verwandelten Eltern zu retten versucht; im panasiatischen Raum rechnet man mit Einnahmen von über 211 Millionen Dollar – das ist die magische Box-Office-Zahl der „Titanic“. Mit dem Goldenen Bären dürfte „Spirited Away“ auch in Europas Kinos gute Chancen bei einem größeren Publikum haben. Damit wäre es mit der Dominanz Disneys vorbei.
Dass es zu diesem globalen Domino-Effekt kommen könnte, liegt allerdings kaum an der Entscheidung der Berlinale-Jury. Seit Jahren schon wächst hierzulande der Markt für Manga-Hefte, der renommierte Carlsen-Verlag bringt mittlerweile mehrere Serien heraus, und im Fernsehen wimmelt es vor Pokémons, Digimons und anderen zweidimensionalen Fantasiewesen. Trotzdem wirkt die Auszeichnung mit dem Goldenen Bären einigermaßen exotisch – zumal in letzter Zeit von Kritikern immer wieder eine Rückkehr des Kinos zur Lebenswelt gefordert wurde.
Genau dort ist aber auch die Handlung von „Spirited Away“ angesiedelt: Alles spielt sich auf dem Gelände eines verlassenen Themenparks ab, der in den Neunzigerjahren errichtet wurde und aufgrund der Wirtschaftskrise geschlossen werden musste. So sind die Geister, die zwei Stunden lang durch Miyazakis Zeichentrickreich schlurfen und schweben, einerseits Erinnerungsbilder an vergangene japanische Traditionen aus der Edo-Ära, zum anderen markieren sie als Wiedergänger das Debakel einer sich über Freizeit und Entertainment definierenden Gesellschaft. Während die Scheinwesen sich unentwegt vergnügen, muss das kleine Mädchen Chihiro für sie Kohlen schleppen und putzen, damit ihre Eltern erlöst werden können.
Das alles mag zwar für eine politische Erdung tief unter dem Zauber der digitalen Animation sprechen, am Ende aber dominiert in „Spirited Away“ doch das Staunen darüber, mit welcher Kunstfertigkeit der 61-jährige Miyazaki seine bizarren Gestalten in Szene gesetzt hat. Es ist dieses traumhafte Schillern zwischen surrealen Farbsettings und detaillierter japanischer Gegenwartsbeschreibung, das den diesjährigen Berlinale-Gewinner zeitgemäßer macht als alle Disney-Märchen. HARALD FRICKE
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