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berliner szenenFrühlingsverwirrungen

Kontextverschiebung

Hilfe! Fünf Zentimeter haben sich die grünen Tulpenblätter schon aus der Erde gearbeitet. Am 5. Februar. Ihr blöden Blumen, der Frost wird euch killen! Anbrüllen nützt leider nichts bei den leichtsinnigen Pflanzen; obwohl ich mal eine Deutschlehrerin hatte, die das Gedeihen ihrer Zimmerpflanzen auf die guten Gespräche zurückführte, die sie mit ihrem Grünzeug unterhielt. Bei ihren Schülern hatte sie weniger Erfolg.

Mein Verhältnis zum Grün ist gespalten. Es will nicht so wie ich. Hortensien lassen kurz nach dem Kauf im Sommer die Äste hängen wie schlappe alte Säcke. Löwenmäulchen treiben im Dezember aus. Grausam kam ich mir vor, ihre Knospen abzusäbeln, aber was hätte mitten im Winter daraus werden sollen? Es ist ein Ros entsprungen, mitten im kalten Winter. Eine Jungfrauengeburt kündigt sich so an im deutschen Weihnachtslied. Auf abartige Gedanken bringt das Grünen zur falschen Zeit.

Eine Freundin, um Rat gefragt, weiß auch nicht weiter. „Ich kann doch nicht Eiswürfel auf alle Tulpenzwiebeln legen, damit die kapieren, dass noch Winter ist und sie drinzubleiben haben.“ Die Natur ist aus dem Takt. Ich vermute dahinter finstere Machenschaften der Blumencenter, die schon an den Genen der Botanik rumgedoktert haben. Dann fällt es mir ein. Kontextverschiebung, eines der Lieblingsstichworte im Kunstbetrieb. Nichts bleibt mehr an seinem Platz. Verdrängtes verrutscht und taucht an ungeeigneter Stelle auf. Unbewältigte Vergangenheit, abgewürgte Gefühle brechen sich Bahn, wo sie nicht hingehören. Der Frühling, der nicht warten kann, scharrt ungeduldig mit den Hufen. Das geht nicht gut, denk ich noch einmal, da zerreißen mir Blitze das Hirn. Niesanfälle. Heuschnupfen. KATRIN BETTINA MÜLLER

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