: Er war fünfzehn
Bourdieu über Pierre: Was in Paris Anlass zu Gerichtsstreit gibt, können deutsche Leser bald legal erwerben – eine „Autoanalyse“ des Soziologen. In Frankreich aber befasst man sich mit dem Vorwurf der böswilligen Veröffentlichung
Als Pierre Bourdieu Ende Januar nach einer kurzen und heftigen Krankheit plötzlich 71-jährig starb, widmeten ihm alle französischen Medien prominente Plätze. Der Soziologe, der zu Lebzeiten sorgfältig ausgewählt hatte, mit welchen Medien er sprach, der seit Jahren Fernsehauftritte vermied und der es vorzog, mit streikenden Eisenbahnern oder Einwanderern ohne Papiere zu diskutieren, statt sich von Journalisten, die auf Auflage und Einschaltquoten achten, zur Kürze zwingen zu lassen, konnte sich nicht mehr wehren. Neben Dutzenden von überraschend huldvollen Nachrufen und einigen nuancierten Auseinandersetzungen mit dem Verstorbenen erschienen hasserfüllte Abrechnungen. Am heftigsten fielen sie in dem Pariser Wochenmagazin Nouvel Observateur aus – Auflage: über eine halbe Million Exemplare. In seiner Ausgabe vom 31. Januar lieferte das Blatt drei Texte (von Daniel, Julliard und Giroud), in denen von einem „starken und simplen Denken“, von einem „populistischen“, „naiven“ und „moralisierenden Diskurs“ und von einem jener vermeintlichen „Freunde des Volkes“, denen man besser nicht zu nahe komme, die Rede war. Und es gab noch eine Überraschung: Dieselbe Ausgabe brachte – neben journalistischen Texten und Porträts – einen zwei Seiten langen autobiografischen Text des Soziologen. „Ich war 15 – Bourdieu über Pierre“, war er betitelt. Der 1930 geborene Soziologe schildert darin seine Jahre auf einem strengen Internat.
Das hat jetzt ein juristisches Nachspiel. Die Familie Bourdieu – die Witwe und drei erwachsene Söhne – wirft dem Nouvel Observateur vor, mit dem prominenten Toten „Geld“, „Auflage“, „Sensationalismus“ und einen „Scoop“ gesucht zu haben. Der Aufsatz, so die Familie Bourdieu, sei „nicht zur Veröffentlichung“ gedacht gewesen. Das habe über dem Text gestanden. Es habe auch niemand die Angehörigen um die Rechte gebeten.
Am 11. Februar ging eine Vorladung vor Gericht an den Verlag – wegen unrechtmäßiger und böswilliger Veröffentlichung und Verbreitung sowie Verletzung des Autorenrechtes. Es ist ein Streitigkeit um intellektuelles Erbe. Die Familie verlangt keine finanzielle Entschädigung, sondern öffentliche Entschuldigungen des Nouvel Observateur. Der Termin für die Gerichtsverhandlung steht noch nicht fest.
Das Magazin löschte umgehend den Aufsatz von seiner elektronischen Hompage. Zudem veröffentlichte es in seiner Printversion auch eine „Erklärung“, in der es zugibt, die Rechte zur Veröffentlichung nicht eingeholt zu haben. Seine Blattmischung freilich sei journalistisch richtig gewesen, sagt Chefredakteur Laurent Joffrin zur taz. Der Nouvel Observateur habe positive Berichte neben Kritik gestellt und auf seinen Titel geschrieben. Wäre es um Auflagensteigerung gegangen, hätte er eine Story über die Freimaurer auf den Titel nehmen müssen.
Eine Einschätzung, die man nicht teilen muss: Tatsächlich verkaufte sich der Bourdieu-Titel ausnehmend gut. Der Einblick in ein Kapitel seiner eigenen Jugend, den Bourdieu nie zuvor gewährt hatte, interessierte viele Franzosen, die das Blatt sonst nicht kaufen. Didier Eribon, der mehrfach Bourdieu-Interviews im Nouvel Observateur veröffentlicht hat und der dem Magazin auch das Bourdieu-Manuskrip gab, ist sich inzwischen trotzdem nicht mehr sicher, ob er das Richtige getan hat. „Hätte ich vorher die mit absurdem Hass geschriebenen Kolumnen gesehen, hätte ich das nicht getan“, sagt er. Der freie Autor Didier Eribon war 22 Jahre lang ein Vertrauter und Mitarbeiter des Verstorbenen. Bourdieu gab ihm seine Texte zum Gegenlesen und berücksichtigte seine kritischen Anmerkungen in der letzten Textversion. So geschah es auch mit dem inkriminierten Aufsatz.
Deutsche Leser können den Aufsatz, mit dessen Veröffentlichung sich in Frankreich zunächst Richter befassen werden, demnächst ganz legal im Buchhandel kaufen. Er ist Teil eines kleinen Buches, das gegenwärtig übersetzt wird und im Juni erscheint. „Pierre Bourdieu über Pierre Bourdieu“ wird darüber stehen, „Ein Selbstversuch“ darunter. Nachdem Bourdieu in seiner letzten Vorlesung vor der Emeritierung im Mai 2001 mit einer „Autoanalyse“ begonnen hatte, schrieb er sie auf knapp 90 Seiten nieder. Im Dezember schickte er das Manuskript an den Suhrkamp Verlag nach Frankfurt. „Version allemande“ schrieb er darunter.
DOROTHEA HAHN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen