: Die Massen sparen sich den Protest
Nur wenige hundert Menschen folgten gestern dem Aufruf der Gewerkschaften zur Demonstration gegen die Sparpolitik des rot-roten Senats. Ver.di-Landeschefin Stumpenhusen verkündete trotzig: „Der Ton wird schärfer“
Reinhard Mey gab mit seinem Lied „Narrenschiff“ das Motto vor: „Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken, die Mannschaft lauter meineidige Halunken, der Funker zu feig’ um SOS zu funken.“ Die Veranstalter der Kundgebung, die gestern Mittag auf dem Potsdamer Platz stattfand, hatten sich bewusst für das Lied entschieden. Das Bündnis aus Ver.di, der Lehrergewerkschaft GEW, der Polizeigewerkschaft GdP und Vertretern der FU Berlin protestierte gegen die Sparpolitik des rot-roten Senats. Mehrere tausend Demonstranten hatte man angekündigt. Tatsächlich waren es nur mehrere hundert, die sich zwei Stunden vor Abgabe der Regierungserklärung mit einem Trillerpfeifenkonzert und lauten Buh-Rufen Luft verschafften und dem Senat symbolisch die rote Karte zeigten. Denn, so erklärte die verschnupfte Landesbezirksleiterin von Ver.di Berlin-Brandenburg Susanne Stumpenhusen, man habe „die Nase voll“ von einer „Politik der Arroganz, des Populismus und der Kaltschnäuzigkeit.“
Eine Milliarde Euro will der SPD-PDS-Senat bis 2006 im öffentlichen Dienst einsparen. 15.000 Stellen sollen gestrichen werden, was einem Einsparvolumen von 500 Millionen Euro entspricht. Die übrige Summe soll durch einen so genannten Solidarpakt zusammen kommen. Dafür müssten die Beschäftigten freiwillig auf einen Teil ihres Gehalts verzichten.
Stumpenhusen bezeichnete die in diesem Zusammenhang gefallene Äußerung von Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), auch der öffentliche Dienst sei jetzt einmal mit Sparen dran, als zynisch und kündigte an, dieser Protest sei nur eine Generalprobe: „Der Ton wird schärfer werden.“
GEW-Chef Ulrich Thöne wies darauf hin, 30 Prozent der geplanten Einsparungen entfielen auf das Bildungswesen. Das Wahlversprechen von SPD und PDS, Bildung habe Priorität, bezeichnete er deshalb als Lüge. Von Wahlbetrug, Wortbruch, Dilettantismus und unprofessionellem Handeln sprach auch der Vorsitzende der Berliner GdP-Eberhard Schöneberg. „Die Polizei kann sich keine weiteren Stellenkürzungen leisten“, sagte er. Berlin habe bundesweit die höchste Kriminalitätsrate. Hinzu kämen zirka 2.000 Demonstrationen im Jahr, Staatsbesuche und Objektschutz. Seit 1996 wurden 6.000 Stellen bei der Polizei gestrichen. Weitere Kürzungen bei der Inneren Sicherheit würden letztendlich die Privatisierung und Käuflichkeit von Recht und Ordnung nach sich ziehen.
Erneut betonten die Gewerkschaften ihre Forderungen nach höheren öffentlichen Investitionen, einem Arbeitszeitgesetz, das ohne Überstunden auskommt, der Wiederbelebung der Vermögenssteuer und einer effektiveren Besteuerung großer Erbschaften. Die Gesamtpersonalratsvorsitzende der FU Berlin, Petra Botschafter, kündigte an, man werde sich in den nächsten Wochen und Monaten häufiger auf der Straße begegnen: „Und wir werden mehr werden, viel mehr.“ MARIJA LATKOVIC
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