: Leichte Verfehlungen
In ihrem zweiten Roman bringt Elke Schmitter die erträgliche Vergeblichkeit des Seins in den Lebensentwürfen der großstädtischen Mittelschicht auf den Punkt. Wir veröffentlichen exklusiv zwei Passagen des Buchs
Wo war nur dieser Zettel? Sie hätte seine Telefonnummer doch gleich in ihr Adressbuch übertragen sollen, aber das hatte sie unterlassen, weil ihr sein Status noch unklar war, weil sie ihn vielleicht noch eine Weile ungeklärt lassen wollte – irgendetwas zwischen Arbeitskontakt und Gelegenheitsbekanntschaft, vielleicht auch mehr. So etwas geschah immer wieder, und dann fand sie den alten Briefumschlag, die Quittung von der Tankstelle, die voll gekritzelte Visitenkarte erst, wenn es längst zu spät war. Doch es hatte nicht nur mit ihr, es hatte vor allem mit der Stadt selbst zu tun, mit ihrer Weitläufigkeit, mit diesem Hin und Her gerade bei jenen, deren Kapital einzig ihr Kopf war: Sie bekamen Stipendien und Forschungsaufträge, Einladungen für drei Monate, die dann noch einmal verlängert wurden, sie trieben zwischen Berkeley, Paris und Zürich, waren plötzlich zu Gast beim Goethe-Institut in Hanoi oder kamen für ein Jahr ans Wissenschaftskolleg. Und kaum hatte man die Nummer notiert und sich nun ganz bestimmt einmal zum Abendessen verabredet, kam schon die Einladung zur Abschiedsparty, oder nicht einmal mehr das. Vielleicht passierte ihr das besonders häufig, weil sie so selten aus dem Haus kam, vielleicht strahlte sie deshalb eine höhere soziale Bedürftigkeit aus, die gerade nette Leute zu einem Gran mehr Herzlichkeit veranlasste, als eigentlich gemeint war. Aber es lag wohl eher an den kulturellen Unterschieden, vermutlich war kaum eine Gesellschaft so unterkühlt wie diese, so dass man geradezu enthusiasmiert war von jedem Mehr an Freundlichkeit, an teilnehmenden Bemerkungen und Leute, die eigentlich nur höflich waren, gleich für gute Freunde oder gar für verliebt hielt. Besonders bei Amerikanern passierte ihr das immer wieder – niemals bei deren Frauen übrigens. Die waren entweder derart versierte Plaudertaschen, dass die souveräne Oberflächlichkeit gar nicht zu übersehen war, oder sie waren auf fast schon wieder europäische Weise verschroben, ein bisschen tantig, ruhig und sehr zurückhaltend. Doch bei den Männern … Sie hatte mal einen ganzen Abend mit einem Autor aus New York verbracht, der dort zur Avantgarde gehörte, von dem es hier erst zwei Bücher gab, Preziosen in erbsengrünem Leinen, delikat und beinahe unverständlich, aber von den besten Übersetzern betreut. Sie saßen zusammen auf der Couch, bei irgendeinem Empfang; sie hatte sich seiner angenommen, weil er etwas einsam schien, und außerdem sah er gut aus, auf eine männliche, äußerst gepflegte Art, ein bisschen prätentiös, mit seidenem Einstecktuch und Siegelring, und die Visitenkarte, die er ihr gleich zu Anfang gab (mit der Bemerkung, dass die Schreibweise seines Namens ungewöhnlich sei), war aus Karton, mit edelstem dunkelrotem Leinen bezogen. Michail Ganin stand darauf und eine New Yorker Adresse. Sie war froh gewesen, irgendwo angekommen zu sein; sie wollte auf gar keinen Fall früh nach Hause gehen, wenn Hannes schon einmal aufpasste. Sie hatten sich lange über seine Kollegen unterhalten, Brodkey und Pynchon, auch über Ellis, und er hatte ihnen ein nachsichtiges Lächeln gewidmet und ein paar gedehnte, vage Freundlichkeiten, um schließlich eine kleine Bemerkung anzuschließen, zur Technik des Trugschlusses oder zur Trivialität der Überraschung, die grausamer als alles zuvor klar machte, dass er sie für überschätzt hielt, für Modeautoren, intelligenter als die meisten, auch bemüht und kunstfertig, aber eben doch nur gehobene Konfektion. Einmal erwähnte er seine Frau, die in New York geblieben war; es würde also keine Dame in seinem Alter, mit Thatcher-Frisur und einer Handtasche aus hartem, glänzendem Leder ihn irgendwann von diesem Sofa reißen und abführen in ein Hotel, und obgleich sie nichts Bestimmtes vorhatte, genoss sie die kleine Aufregung, die in der Offenheit der Situation lag, in der Unbestimmtheit ihrer Bekanntschaft, in der intellektuellen Intimität ihrer Unterhaltung – fast nichts verbindet ja so schnell wie gemeinsame Geringschätzung – und in der Tatsache, dass dieser Empfang erst einmal endlos weiterging, denn es waren zu viele prominente Künstler da, als dass man den Laden einfach hätte schließen dürfen. So tranken sie Weißwein um Weißwein und waren irgendwann mit den Autoren durch; er wollte wissen, ob die beiden Tennisplätze, die er hinter der Schaubühne entdeckt hatte, private waren, was sie ihm nicht sagen konnte; er hatte zwei schmale Zigarillos geraucht und zündete sich nun den nächsten an; er beugte sich näher zu ihr und fragte in konspirativem Ton, ob er sie etwas fragen dürfe, sicher etwas Ungewöhnliches, aber er kenne nun mal niemanden, der ihm da helfen könne. Sie hatte nur ruhig genickt, sie fühlte sich erhoben und geehrt und sehr gespannt; sie war, wenn überhaupt, auf eine erotische Pikanterie eingestellt, auf eine kultivierte Marotte oder etwas naiv Verbindendes wie einen Zirkusbesuch, eine Wanderung auf den Brocken, eine Nacht mit ihm im Schlafwagen; alles schien möglich, und sie wollte sich auch nichts ausdenken, sondern sich überraschen lassen, so wie nach fünf Gläsern Weißwein nichts selbstverständlicher erscheint als eine Zeile wie „Du musst dein Leben ändern“ oder „Schafft euch Erinnerungen!“
Er beugte sich noch weiter zu ihr, und sie kam ihm mit dem Gesicht entgegen, so dass sein Mund beinahe an ihrer Wange lag; sie schauten beide in die wogende Menge vor ihrem Tisch, auf zahllose Gesäße in dunklen Stoffen, auf baumelnde Handtaschen und einige wenige Oberschenkel von sehr jungen Frauen.
„Ich werde ja nun für einige Monate hier sein“, sagte er leise in seinem so überaus eleganten Englisch, das ihr jede seiner Bemerkungen auf Anhieb subtil und berechtigt erscheinen ließ, „als writer in residence, und ich werde verzweifeln, wenn ich dieses Problem nicht lösen kann, das sich mir noch nirgends gestellt hat, nicht in Venedig und nicht in London, weder in Paris noch, selbstverständlich, in New York.“
Sie hatte die Augen geschlossen und folgte seinem melodiösen Raunen; durch ihre Lider hindurch schimmerte die vor ihnen stehende Kerze, und ihre Wimpern bewegten sich leise mit den Reflexen; sie sah sich selbst wie ein Bild im Kino, eine Blondine mit hohen Wangenknochen, lächelndem Mund bei leicht geöffneten Lippen, leuchtend von einer fast unpersönlichen Zärtlichkeit.
„Sie sind eine Frau“, fuhr er fort, „bei der ich spüre, dass ich sie so etwas fragen kann. Sie werden mich nicht missverstehen und nicht für – sagen wir, unmöglich halten, Sie sind eine kultivierte Person …“
Sie bewegte sich nicht.
„Es geht um meine Wäsche“, sagte er. „Ich habe diese handgearbeiteten seidenen Maßhemden von Charvet, und ich finde einfach niemanden hier, der sie angemessen pflegen könnte. Sie verstehen, eine chemische Reinigung ruiniert sie mir natürlich, aber überall, wo ich sonst bin, hat sich immer problemlos jemand gefunden, der damit umgehen konnte, irgendein besonderer Service … Ich habe damit nicht gerechnet, aber es scheint in der deutschen Hauptstadt tatsächlich keine Wäscherei für dergleichen zu geben, ich muss also privat jemanden finden. Und ich dachte mir, Sie wissen bestimmt eine Adresse.“
Sie hatte die Augen wieder geöffnet und starrte in sein Gesicht, nach einer Belustigung in seinem Mienenspiel suchend, nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass er nur einen Witz machte, mit ihr oder auch mit der Hauptstadt, mit seiner leisen Verachtung für die Deutschen, an der er sie zuvor hatte Anteil nehmen lassen, der Verachtung für ihre Unfähigkeit, in der Konversation ein bestimmtes Niveau zu halten, ohne zudringlich oder polemisch zu werden, oder überhaupt eine Geselligkeit wie diese auszurichten und unauffällig dafür zu sorgen, dass alle sich wohl fühlten, dass niemand vor der Zeit betrunken wurde, dass es ein gesittetes Ende nahm … „Dafür waren hier eben die Juden zuständig“, hatte er mit einem schwer deutbaren Lächeln gesagt, als wolle er mit der Brutalität seiner Formulierung andeuten, dass er sich jede Subtilität in diesem Zusammenhang als eine besondere Geschmacklosigkeit – eine besonders deutsche Geschmacklosigkeit – verbitte, jede tragisch erhobene Augenbraue, jedes verständnisinnige, traurige Lächeln und all die gewohnten Gesten eines flauen, höflichen Schuldgefühls. Nichts in seinem Namen deutete darauf hin, dass er Jude war – vom Alter her, überschlug sie hastig, war jedenfalls ausgeschlossen, dass er noch hier geboren war, doch selbstverständlich konnte er Familie haben, die irgendwo in Polen oder in einem deutschen Arbeitslager umgekommen war, und so wäre es dann eine nahe liegende Perspektive, die Berliner Geselligkeiten daraufhin wahrzunehmen, was fehlte, und in jeder sich lose findenden und wieder auseinander gehenden Gruppe die Umrisse jener zu suchen, die eben nicht dabei waren und die, zweifellos, das allgemeine Niveau deutlich gehoben hätten.
Doch nichts in seinem Gesicht deutete einen Scherz an; die grauen, von beträchtlichen Hautsäcken gesäumten Augen beantworteten ihren erstarrten Blick nur indigniert und leicht verwundert; er hatte, dachte sie, sich eben auch hier „in der Etage geirrt“, wie er sich vorhin ausgedrückt hatte; er war an eine geraten, die nicht nur nicht wusste, wo man maßgeschneiderte Seidenhemden aus Paris pflegen lassen konnte, sondern die eine solche Frage auch leicht degoutant fand, weil sie damit groß geworden war, jeden Löffel aufgewärmten Eintopf zu schlucken, da die armen Kinder in Afrika überhaupt nichts zu essen hatten …
„Ich kann Ihnen da nicht helfen“, sagte sie denn auch etwas streng, und um ihre Strenge wieder gutzumachen, hatte sie sich mit ihm auf eine weitschweifige und detaillierte Erörterung von Textilien eingelassen, schwere Seiden versus Fliegerseide, Rohseide versus Taft, durchgewebte Stoffe versus bedruckte; sie wusste mehr darüber, als ihr bewusst gewesen war, und offenbar, so dachte sie, während sie sprach, wollte sie doch einen besonders kultivierten Eindruck machen, wollte um keinen Preis jener leisen Verachtung anheim fallen, in der sie ihm eben noch zugestimmt hatte, und ebendieser kleinbürgerliche Ehrgeiz bedrückte sie, und sie verachtete sich dafür. In ihrem vom Alkohol entzündeten Gehirn wog sie diese Wahl zwischen zwei Arten der Verachtung ab, die Fremdverachtung gegen die Selbstverachtung, und, so demütigend sie das wiederum fand, die erste war zunächst schrecklicher, obwohl die zweite dann folgte, auf dem Nachhauseweg, in dem nach kaltem Rauch stinkenden Taxi, als sie, bedröhnt von türkischem HipHop, zu dem der Fahrer mit den Händen im Takt auf das Lenkrad schlug, mit sich und ihrem Ehrgeiz ins Gericht ging, mit diesem erbärmlichen Bedürfnis der Mittelklasse, zur haute volée zu gehören. Sie schämte sich, hasserfüllt, für ihre Mutter, wenn die jene leicht affektierte gesellschaftliche Beflissenheit an den Tag legte, die sie aus Regensburg entführen sollte und die doch nichts anderes als Regensburg war, und nun war sie überführt worden als dieselbe kleine, trostlos von ihrer Minderwertigkeit durchdrungene Seele, eine Kleinbürgerin, die vor Snobismus und Seidenhemden errötend in die Knie ging, wenn sie nur glauben durfte, dass es sich nicht um neureiche Allüren, sondern um die Privilegien einer alten, womöglich jüdischen Familie handelte.
Hier war die Nummer, auf der Rückseite einer Einkaufsliste, die sich an jenem Abend, zerknittert und an den Ecken eingerissen, in ihrer Handtasche gefunden hatte: Frischkäse, Butter, Bioeier, Salat, 2 Avocados, gem. Gehacktes o. Hühnerschenkel, 40-Watt-Birnen!! Aber noch immer war sie unschlüssig, ob sie sich bei ihm melden sollte. Sie wollte nichts von ihm als die Zusicherung, dass sein Angebot nicht nur der Laune eines Augenblicks entsprungen war, sie wollte weiterhin daran denken dürfen, zumal die Aussicht auf dieses Engagement schon einiges in ihrem Leben angerichtet hatte. Sie hatte beiläufig die Rede darauf bringen wollen, am letzten Sonntag, nach dem Vortrag, aber er war nicht mehr zurückgekommen von seinem Telefongespräch. Von Claudia hatte sie nur erfahren, dass die ersten Probentermine schon feststanden, die Räumlichkeiten gemietet waren, die Besetzungsliste beinahe abgeschlossen war. In ihrem Zögern hatte nicht einmal Selma ihr helfen können. Auch sie schien von der undurchdringlichen Ruhe Waals, die im Widerspruch stand zu seiner tatsächlichen Flüchtigkeit – seinen Reisen zu allerlei Zwecken, seinen Inszenierungen hier und dort – und seiner intellektuellen und sozialen Liquidität – seiner Vielsprachigkeit, seinen weit gespannten und undurchschaubaren Kontakten –, wie gelähmt oder gebannt, jedenfalls in ihrer spontanen Urteilsfähigkeit behindert.
Sie drehte den Zettel zwischen ihren Fingern. Sie sollte sich jedenfalls bald entscheiden, denn in einer halben Stunde musste sie Sophie vom Kinderladen abholen, und dann gab es keine freie Minute mehr bis zum späteren Abend. Vielleicht war es gut, es jetzt gleich zu tun; mit jedem weiteren Tag würde ihre Anspannung zunehmen, die bange Frage an Dringlichkeit gewinnen, ob er womöglich gar nicht mehr daran dachte, was er ihr, zu allerdings fortgeschrittener Stunde, im Halbdunkel des Theaterzeltes, auf einer Holzbank Schulter an Schulter gelehnt, in nüchternen Worten angeboten hatte.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. Die dunkelgraue Masse von Leitz-Ordnern in ihrem Rücken reichte bis an den Stuck der Decke; der Blick ging hinaus und brach sich an der gegenüber liegenden Wohnung, auf deren Balkon eine Frau in ihrem Alter, die zu unregelmäßigen Zeiten zu arbeiten schien, sich in einem knallgelben Bikini auf einer Liege sonnte; sie hatte die Träger ihres Oberteils herabgestreift und ihren Busen bis zu den Warzen entblößt.
Einmal verwählte sie sich. Dann ertönte, gleich nach dem zweiten Klingelzeichen, Waals gemessene, tiefe Stimme: „Dies ist der Anschluss null drei null, acht sieben vier sechs drei vier. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Signal.“
Sie drückte auf die Abbruchtaste. Sie fühlte sich verlegen, wie ertappt, und dann ganz leer. Sie schaute auf die Uhr; es war längst Zeit. Sie nahm den Schlüssel aus der Kommode im Flur und ging hinaus.
[…]
Über den senffarbenen, in der Stufenmitte durchgewetzten Läufer kamen ihr leichte Schritte entgegen; am Treppenabsatz über ihr hielten sie inne. Die Beine eigentümlich ineinander gedreht, wie ein Korkenziehermännchen aus dem Erzgebirge, stand da Sophie und sah auf sie herunter; ernst und abwartend, wie ihr schien.
Die Frage der Eröffnung war jedes Mal aufs Neue unentschieden; es war leichter, wenn Bettina ihr entgegenkam und Sophie mitbrachte und die beiden, ein kleines Komitee bildend, ihre antagonistischen Interessen in einer gemeinsamen Geste vorübergehend aufhoben: Sophie war dann stolz, eine Gastgeberin zu sein; sie wies sie auf die Garderobe hin und bot ihr ein Glas Wasser an und hatte für diese Zeit vergessen, dass Selma nicht ihre Freundin war, sondern die ihrer Mutter, und dass Selma, eine Zigarette nach der anderen rauchend und eine Tasse Tee nach der anderen trinkend, aus ihrer freundlichen, verfügbaren Mutter ein fremdes, gleichgültiges Wesen machen würde, eine ihrerseits rauchende und Tee trinkende Frau, die keine Lust hatte, ihre Bilder zu betrachten, in ihrem Puppenladen einzukaufen, ihr etwas vorzulesen. Sie hatte ihre Techniken: Sie konnte Hunger oder Durst bekommen, eine Kassette musste gewechselt werden, sie wollte gerne ihre beste Freundin sehen oder ihr Bauch tat plötzlich ein bisschen weh. Sie hatte ihre Techniken, sie konnte lästig werden, doch sie konnte sich ihrer Siege nicht lange freuen, denn Selma verschwand deshalb niemals. Es war für alle drei ein unerfreuliches Spiel und es gab darin nur Verlierer – eine geduldig rauchende, aber zunehmend verdrossene Selma, eine von knotigem Zorn erfüllte Sophie und schließlich Bettina, zerrissen zwischen den gegensätzlichen Ansprüchen von Tochter und Freundin und spürbar wund gescheuert von ihrem eigenen, aufbegehrenden Ich.
„Mama hat Besuch“, flüsterte das Kind.
Selma machte die letzten Schritte auf das Mädchen zu und beugte sich hinunter. Sie sah in dunkelblaue Augen, deren Pupillen im Dämmerlicht erweitert waren, unter so schweren Lidern, dass sie Sophie im ersten Moment stets für verschlafen hielt, im zweiten dann entzückt war von der ikonenhaften, schönen Trägheit ihrer Züge. Vorsichtig strich sie ihr über die hellen Locken, die, wie bei ihrer Mutter, konturlos über die Schultern fielen. Automatisch in die Knie gehend, hob sie das Haar des Mädchens über ein Ohr zurück und flüsterte konspirativ: „Wer ist es denn?“
Sophie schwieg. Sie atmete ein wenig mühsam, mit halb geöffneten Lippen, vor Aufregung oder weil sie Schnupfen hatte. Das Ticken hatte aufgehört und das Treppenhaus lag wieder im Dunkeln. Es war nicht ganz leicht für Selma, das Gleichgewicht zu halten. Dennoch, sie wollte sich nicht aufrichten, wollte auf diese unerwartete, noch schwebende Intimität nicht verzichten. So hielt sie aus und atmete neben Sophie, in einer mehr als verdoppelten Amplitude, und lauschte den leisen Pfeiftönen nach, die das Mädchen ausstieß.
Ohne äußeren Anlass machte Sophie sich schließlich zum Sprechen fertig. Selma hörte sie schlucken.
„Ein Mann.“
Selma setzte sich auf den Treppenabsatz. Sophie ging in die Hocke, ließ sich auf den Hintern plumpsen und rutschte dann eng neben sie; eine regressive Bewegung. Der Lauf des Geländers war an der Unterseite nachlässig gestrichen. Der grobe Läufer scheuerte an ihrem Hintern, und einzelne Fäden, hart und steif wie Bast, piksten durch die dünne Baumwolle des Slips. Sophies braungoldene, gepolsterte Knie, welche die Scheibe nicht einmal ahnen ließen, waren ganz nah. Als Kind hatte Selma irgendwann einmal entdeckt, dass ihre eigene Haut duftete, am schönsten an den Knien, und hin und wieder setzte sie sich so hin, wie sie beide jetzt saßen, und küsste ihre Knie und atmete den durch die Feuchtigkeit intensivierten Duft ein. Sie waren noch immer ganz glatt, wenn auch nicht sanft und gerundet wie die Sophies, aber bei anderen Frauen in ihrem Alter sah man schon die Knorpel, die flache Scheibe, umgeben von höckrigen Ausbuchtungen, und, direkt unter dem Knie, eine harte, breite Vertiefung. Bei manchen war die Kniescheibe selbst gar nicht mehr zu erkennen, stattdessen fing da eine richtige Landschaft, unregelmäßig und irgendwie versehrt wirkend, das Licht auf; ein hässlicher Anblick. Wahrscheinlich ist es das, dachte Selma, was wir an Kindern so schätzen, was uns dieses Verlangen eingibt, sie zu küssen, anzufassen: die ganze Verkleidung ist noch intakt, Wülste aus Speck und Knorpel und Haut, glatt gestrichen an der Oberfläche, schimmernd, geheimnisvoll wie Puppenleiber, nur gerade so behaart, dass man den Menschen erkennt. Nach und nach treten dann die Funktionen hervor, Adern und Knochen, Sehnen und Falten, der Körper offenbart seine Mechanik, und am Ende sehen wir aus wie Marionetten ohne Klamotten, statt der geheimnisvollen glatten Schale zeigt sich die Vielzahl von Gesetzen, die Komplexität des Funktionalen, die niemanden interessiert.
Sophie zog die Nase hoch.
„Kennst du den Mann?“, fragte Selma, noch immer flüsternd. Ihre Hände, hellbraun, sehr glatt und anmutig, mit vier deutlich sichtbaren, regelmäßig geformten Höckern da, wo die Finger eingehängt waren, lagen auf ihren Knien wie folgsame Tiere. Sophie saß da wie sie, die runden, weichen Hände mit den feinen Fingergliedern und den winzigen durchsichtigen Nägeln auf ihre goldbraunen Knie gelegt, sie aber festhaltend. Ihr ganzer Körper war voll Spannung.
Kopfschütteln, vielleicht im Puppentheater gelernt: ganz heftig und ausdrücklich, mit fliegendem Haar und fest geschlossenen Augen.
„Dann gehen wir doch mal hoch“, sagte Selma und richtete sich auf. Die Konspiration war aufgehoben, als hätte ein Geist das Treppenhaus wieder verlassen, hinaus in den Hof, wo jetzt ein unerwarteter Sonnenstrahl die Blätter von unten beschien (wie konnte das sein?), so dass deren zartes Gewebe leuchtete wie mit Neonfarbe bestrichen. „Bettina wird sich schon fragen, wo wir bleiben.“
Doch das war nicht der Fall. Mit einem Mal meinte Selma zu spüren, womit Sophie zu kämpfen hatte, wenn sie in ihrem riesigen, mit Spielsachen voll gestopften Zimmer, leblos wie die Requisitenkammer einer Kindheit, saß und darauf wartete, dass sie endlich ging. Die Wohnungstür war angelehnt, und sie stand mit Sophie schweigend in der Diele, auf Bettinas energischen Schritt wartend, auf eine Art von Willkommen. Aber nichts geschah. Aus dem Arbeitszimmer drang Bettinas Stimme, lebhaft und ein wenig agitiert, ihre Arbeits- und Gesellschaftsstimme: höher als sonst, mit kleinen Lachern besetzt; irgendwie kokett, fand Selma, die ihre Mikrofonstimme, zu hören auf diversen Rundfunkbändern, allerdings auch nicht mochte: eine matte Angelegenheit, aus der alle Persönlichkeit getilgt war und jegliche Spur von Gefühl, bis auf eine jungmädchenhafte, taubengraue Vorsicht. Sophie hatte wieder ihre Hand genommen und schien sich nicht von ihr trennen zu wollen.
Eine endlose Ankunft, dachte Selma, leicht belustigt, und ließ schließlich, mit einer raschen Bewegung nach hinten, die Wohnungstür schmetternd ins Schloss fallen, lauter, als sie vorgehabt hatte. Da wurde drinnen ein Stuhl gerückt, und Bettina kam auf sie zu.
Als sie das Haus verließen, war Kreuzberg bereits in Sonntagabenderregung. Zwischen den Imbissbuden lagerten Trauben von Jugendlichen, eng aneinander gedrängt, mit dröhnenden Ghettoblastern zwischen sich. Junge Paare, die Hände interesselos ineinander gelegt, trödelten von den Litfaßsäulen zu den Kinos, blieben vor Restauranteingängen stehen, gingen noch nicht hinein. Die alten Frauen, die den Nachmittag, scheinbar mit einem Ziel, auf dem Kottbusser Damm zubrachten, waren verschwunden; wo sie auf den Bänken gesessen hatten, standen jetzt Männer in Gruppen, rauchten, sprachen leise und wenig und sahen den Plastiktüten und Papierfetzen nach, die von einem böig kreisenden Wind durch die Grünstreifen getrieben wurden.
Ein vielleicht dreizehnjähriges türkisches Mädchen kreuzte ihren schlendernden Gang und blieb vor ihnen stehen. Es war in Orange und Khaki gekleidet, das T-Shirt ließ den gepiercten Bauchnabel frei, und die Hose schien von den schmalen Hüften zu rutschen. Die Augen waren beinahe so rund wie die Sophies, von faltenlosen Lidern schwer umrahmt, das Weiß darin schimmernd wie Blaumilchkäse.
„Haben Sie mal Feuer?“
Langgliedrige, sehr schmale Finger umspielten eine Zigarette. Selma zögerte noch, als Waal schon das Feuerzeug aus seiner Hosentasche gezogen und geöffnet hatte. Er hielt seine Hand um die Flamme und senkte ein wenig den Kopf, während das Mädchen die Lippen zu seinen Händen führte, ohne Hast den ersten Zug machte und den Rauch, sich wieder aufrichtend, zur Seite ausstieß. Ein dunkler, für sie nicht zu entziffernder Blick traf sie für Bruchteile von Sekunden und ruhte dann auf Waals Gesicht, ein wenig länger, wie sie bemerkte, als angemessen war.
„Danke“, sagte das Mädchen, tonlos, aber nicht unfreundlich. Es drehte sich um und gewährte ihnen den Blick auf seinen Rücken, das riesige Label auf der dünnen Baumwolle zwischen den Schulterblättern, die unförmigen Hosenbeine, die unzerstörbare Anmut seiner Bewegungen.
Selma schwieg. Eine undefinierte Spannung hatte von ihr Besitz ergriffen, versteifte ihre Schultern und ließ sie, nach einem kurzen Seitenblick auf Waal, starr geradeaus sehen. Als sie das bloßgelegte Treppenhaus durchquerten, waren sie beide, so war es ihr erschienen, beinahe ausgelassen gewesen; sie hatten die vielen Stufen nebeneinander zurückgelegt, in dem geräumigen, kühlen Halbdunkel, und in einer spontanen, nicht zu erklärenden Einigkeit dieselbe Melodie gesummt, das Stück des Papageno, zu dem es zwei nicht zu vereinbarende Texte gab. Ein Gefühl von Befreiung oder wenigstens Erleichterung hatte Selma durchflutet, dem sie nicht weiter nachzuspüren wünschte; es mochte mit der Enge des Raums zu tun haben, in dem sie gerade gesessen hatten. Sophie hatte den fremden Mann durchaus nicht aus den Augen lassen wollen, war immer wieder aus ihrem Zimmer durch die Schiebetür getreten (die ständig einen Spalt geöffnet war, als würden beide, Mutter und Kind, eine vollständige räumliche Trennung nicht ertragen) und in der Öffnung stehen geblieben, mit forschendem Blick, schweigend und persistent. Die Unterhaltung hatte das Thema Clavigo gestreift, den Derrida-Vortrag erwähnt, die Strukturen der Universität beklagt. Die Abwesenheit von Klatsch berührte Selma merkwürdig und angenehm. So war die oft eilige, geradezu rutschende Bewegung in die Intimisierung ausgeschlossen, die Menschen ihres Alters häufig geschah, wenn sie sich beruflich kennen lernten – diese Verständigung en passant durch hochzuckende Augenbrauen, verzogene Mundwinkel, missbilligende Blicke, wenn von den Liebschaften, Landhäusern oder Karrieren anderer die Rede war. Dann war Selma so beschäftigt damit, alles zu überstehen, dass sie keinen Eindruck behielt als den der Anstrengung, nebst Einzelheiten zu Liebschaften und Landhäusern, die sie zuverlässig durcheinander brachte.
Es war also Platz zwischen ihnen gewesen: emotionaler Zwischenraum, eine Atmosphäre des Unbestimmten, in der die Aufmerksamkeit frei schweben konnte, passend zu Waals neutraler, dennoch nicht vager Art, die Dinge zur Kenntnis zu nehmen: Bettinas unordentliches Arbeitszimmer, das ihre romantischen Neigungen (verstreute Seidenbänder, Familienfotos und aufwendig bestickte Kissen) ebenso verriet wie deren Abwehr, aufbewahrt und aufgetürmt in Leitz-Ordnern, Büromöbeln, einem riesigen Drucker gleich neben dem mit Samt bezogenen Sessel; das Kind, das zwischen Faszination und Misstrauen schwankte und seine Ambivalenz durch immer die gleiche Bewegung – in sein Zimmer und wieder zu ihnen, mit einem gedehnten, stummen Aufenthalt in der Zwischentür, mit dem linken Fuß am rechten Bein hinauf-, hinunterschabend – zum Ausdruck brachte; Bettinas fühlbare Anspannung. Sie hatten Kaffee getrunken, geraucht, und allmählich war eine Art russisches Milieu entstanden, eine ungenaue, beiläufige, von Heiterkeit durchzogene Stimmung des Wartens auf eigentlich gar nichts, des schieren Zeitvergehens, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, als zusammenzusitzen, Kaffee zu trinken, zu rauchen, flankiert von dem trotzigen Begehren des Kindes und merkwürdig weit entfernt von allen Ansprüchen der Welt, wie durch eine erst durchsichtige, schließlich filzige Wand von ihnen getrennt. Das Auftauchen von Johannes hatte dem ein Ende gemacht – nicht durch sein beinahe lautloses Betreten der Wohnung, nicht durch seinen großen Körper, der elegant im verschatteten Türrahmen lehnte, und nicht durch die wenigen, vor durchaus sympathischer Neugier leuchtenden Fragen, die er an die Anwesenden richtete. Sondern vor allem und zuerst durch Bettina, die erstarrte, sobald sie, als Erste, das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür hörte, die ihm nicht entgegenging oder auch nur entgegensah, die wie ein schuldbewusster und doch aufgebrachter Angeklagter auf ihrem Sofa sitzen blieb – und vielleicht auch durch die Tochter, die ihrem Vater entgegenlief, sich ostentativ an sein Bein klammerte (deutlich zu alt für eine solche Geste) und damit den Raum, wie in einem Theaterstück, neu aufteilte: Zwei Gruppen starrten sich an, und eine schwere Wut war zwischen ihnen, von einer fast gegenständlichen Wucht, auf Selma lastend und Bettina, durch deren langen Körper ein Zucken lief wie das eines frisch gefangenen Aals, gegen ihren Willen durchzitternd.
Im trüben, dampfenden Licht, das durch die weit geöffneten Fenster kam und ein Gewitter für den späteren Abend ankündigte, vollzog sich der Aufbruch der beiden Gäste, in der gebotenen Eile und nur gebremst durch das von allen geteilte Bedürfnis, den plötzlichen und unwiderruflichen Umschwung der Stimmung durch besondere Höflichkeit zu kaschieren. Selma fühlte in der Umarmung des Abschieds Bettinas Rippenbögen, hart und plötzlich erbarmungswürdig, Kronzeugen einer Krise, die sie zu bemerken versäumt hatte. Wie viele Unterhaltungen hatten sie beide geführt über Johannes’ anhaltende Neigung zu Assistentinnen, über die Tristesse der sickernden Stunden, die Bettina mit Sophie in der geräumigen, dunklen Wohnung verbrachte, über die wechselnden Tagesmütter, die ihren Aufgaben in rätselhaftem Pflichtbewusstsein nachkamen, um aus scheinbar heiterem Himmel zu kündigen, weil ihr Mann eine Arbeit in Bochum oder sie selbst eine Ganztagsstelle gefunden hatten oder weil sie zurückgingen nach Portugal, nach Spanien, in die große Leere Georgiens? Das unergebene Seufzen Bettinas, die Klagen über die Besteuerungsverhältnisse, die Schwierigkeiten, Personal zu finden, waren ein ironisches Echo auf bessere Zeiten: Vor hundert Jahren, so waren sie sich einig, hätten Menschen wie Johannes und Bettina selbstverständlich mit einer Truppe treuer Dienstboten gelebt. Nun kochte Bettina Kaffee und Tee, füllte die komplizierten Formulare aus, die für ausländische Arbeitskräfte zu verschicken waren, leistete nebenher Sozialarbeit für diese wortkargen Personen, die ihre Tochter zu mögen bezahlt wurden – und doch konnte nichts, weder Fürsorge noch Tee, die Erosion aufhalten, das immer empfindlicher werdende Bewusstsein einer Abhängigkeit, die sich als Privatsache tarnte. Jeder Kindergeburtstag war eine Angelegenheit strategischer Präzision, ein Zahnarztbesuch ein Ereignis: Nichts ging einfach so. Die Seele dieses Kindes, des einzigen, das sie beide miteinander haben würden (denn so lautete die Abmachung), war ein sorgsam zu hütender Schatz, und jede Grippe, jeder schmerzende Milchzahn war eine Quittung für Versäumnisse; es war der falsche Arzt, der Mangel an Zeit, die Spannung in der Beziehung. Wie lange schon feindliche Mächte rangen die beiden miteinander, drohten mit Erinnerungen (du hast damals in Rom; als meine Mutter Weihnachten kam; an ihrem zweiten Geburtstag) und führten Beobachtungen an, die Sophie, das Wesen mit den schweren Lidern, zu einem Vasallen ihrer Interessen machte. Und so wie beide sich als ideale Eltern fühlten, die nichts als das Wohl des Kindes meinten, so stritten sie miteinander: im Auftrag und erbittert.
Als Selma Bettinas Rippen spürte, hatte sie all das in Wirkung vor Augen: von Einzelheiten entbeint, aber in der Summe mächtig und ächzend, das nun gerade trostlose Ergebnis von gutem Willen und Trotz. Ihre verlässliche, diskrete Solidarität hatte sich aufgelöst in einen spontanen Fluchtimpuls. Sie war froh, dem Inferno zu entrinnen, das die beiden sich jetzt bereiten würden, und sie hätte die Kraft dazu, von schlechtem Gewissen gehemmt, nicht gehabt, wäre nicht Waal an ihrer Seite gewesen. So traten sie ins Freie: verbunden im Entkommen, und Selma von einer besonderen Heiterkeit durchstimmt, entschlossen und naiv zugleich, und – vielleicht um der moralischen Ablenkung willen – ein klein wenig kokett. Sie gingen in Richtung Kottbusser Damm, absprachelos, und Selma noch immer summend.
© 2002 Berlin Verlag, BerlinElke Schmitter: Leichte Verfehlungen, Berlin Verlag, Berlin 2002, 310 Seiten, 19 Euro (das Buch erscheint am 11. März)Am taz-Stand auf der Leipziger Buchmesse wird Elke Schmitter aus ihrem Roman lesen. Wann? Am Freitag, dem 22. März, 16 Uhr. Wo? Halle 2, E 300.
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