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Durchs wilde Kasachstan

Eine Fahrt im Zug ist noch immer die beste Möglichkeit, Landschaft und Menschen gleichzeitig kennen zu lernen. Essen, trinken, reden und ein wenig Sozialfürsorge – ein Erlebnisbericht auf dem Weg vom zentralasiatischen Bischkek nach Moskau

Das Verzollen von Waren an der Grenze gilt dem Händler als Gesichtsverlust

von KAY TSCHERSICH

„Njet!“ – Ich schaue ungläubig durch die winzige Öffnung auf die Frau im Schalter, Uniformjacke, knallrote Lippen, ungerührter Blick. Ich beteuere, nur ein Ticket nach Moskau kaufen zu wollen, versuche mit meinem Transitvisa im Pass zu argumentieren. Der strenge Blick bleibt der gleiche und lässt erst gar keine Hoffnung aufkommen. Das geforderte Papier muss besorgt werden – eine Genehmigung der Bahnhofsmiliz für den Kauf des Billets. Also hinab in die Kelleretage zum Dienstzimmer. Der Stempel nebst Formular ist im Tresor und dessen Schlüssel natürlich beim Chef. Mit dem Bescheid, man könne nie sagen, ob und wann der Vorgesetzte wieder zurückkomme, werde ich wieder nach oben geschickt. „Achte auf einen roten Audi, das ist seiner.“

Drei Stunden später gebe ich das Warten innerlich auf und lege meine Hoffnungen in den nächsten Tag. Nach weiteren zwei Stunden taucht der Audi tatsächlich auf. Ein höflicher Small Talk über Gebrauchtwagenpreise in Deutschland beschleunigt die Ausstellung des Papiers. Gleich darauf bin ich glücklicher Besitzer einer Fahrkarte von Kirgisistan in die russische Hauptstadt. 3.776 Zugkilometer zwischen Bischkek und Moskau liegen vor mir.

Der Bahnsteig ist voll, und neben den Menschentrauben türmen sich ganze Berge von Gepäck. Beim Einfahren des Zuges kommt Bewegung in die Massen, und die Menschenmenge brandet gegen die Wagentüren. Jede Gastfreundschaft, die ich in den letzten Wochen so ausgiebig genießen durfte, scheint vergessen. So bleibt nichts anderes übrig, als mitzumachen. Einige schweißtreibende Minuten und ein, zwei blaue Flecken später habe ich Platz für mein Gepäck und mich erobert.

Die Waggons im alten Pullman-Stil stammen aus den Sechzigerjahren und haben ihren moosgrünen Anstrich seit dieser Zeit ganz gut bewahren können. Das Innere der Wagen versprüht morbiden Charme. Im Großraumwaggon, der billigsten Preiskategorie bei Fernreisen in der GUS, gibt es keine separierten Coupés. Hier sind in neun zum Gang hin offenen Segmenten jeweils sechs Fahrgäste untergebracht – theoretisch. Denn zu den 54 Mitreisenden mit regulären Tickets kommen mindestens noch 20 weitere, die sich auf die Sitzbänke quetschen und mit der Waggonschaffnerin verhandeln. Die ist für die nächsten Tage die mit Abstand wichtigste Person. Mit Antritt der Fahrt ist man ihr ausgeliefert, selbst die Pässe werden unerbittlich einkassiert. Von einem leichtfertig vom Zaun gebrochenen Streit ist dringend abzuraten. Das um einige Dezibel stärkere Stimmorgan ist kaum zu übertönen.

Mit Tolja hat der Waggon ein besonders resolutes Exemplar erwischt. Aber nach der bei einem Ausländer besonders kritischen Überprüfung von Ticket, Gepäck, Visa und Pass grinst sie breit und beginnt mit der Verteilung der Bettwäsche, deren Anmietung für jeden obligatorisch zu sein scheint. Ein Mütterchen, das eigene auspacken will, wird lautstark belehrt. Draußen rollt Kirgisistan vorbei. Die Bahnstrecke verläuft parallel zu den nordwestlichen Ausläufern des Tian-Shan-Gebirges, der Himmelsberge. Das Land ist extrem bergig. Fast 50 Prozent befinden sich in einer Höhe über 3.000 Meter und die höchsten Gipfel, die gehaltvolle Namen tragen wie Pik Lenin oder Pik des Sieges, reichen bis über 7.000 Meter hinaus. Aber bald werden die letzten Bergketten verschwunden sein. Der Zug schaukelt schließlich in Richtung der endlosen Steppen Kasachstans.

In unserem Abteil stellt sich heraus, dass wir uns den Platz für sechs zu neunt teilen müssen. Zwei Usbekinnen, eine mit Töchterchen Samia, sind unterwegs, um in Russland Arbeit in einer Schneiderei anzunehmen. „Wir können uns keine richtige Fahrkarte leisten, aber was sollen wir machen. Es ist so schon schwer genug, Mann und Familie für ein Jahr zu verlassen.“ Jede der beiden hat noch zwei größere Kinder zu Hause in der kirgisisch-usbekischen Grenzregion. Aber dort gibt es kaum Arbeit und die Löhne sind geradezu lächerlich gering. Der Verdienst in Russland ist eben um ein Vielfaches höher.

Auch die achtzigjährige Jekatharina gegenüber fährt die 2.300-Kilometer-Strecke ins südrussische Samara nur, um dort ihre Jahresrente abzuholen. Die Russin lebt seit 19 Jahren in Kirgisistan und ist wegen des höheren Rentenniveaus zum Schein noch in Samara gemeldet. Geboren in Sibirien folgte sie ihrem Mann zunächst nach Tadschikistan, wo sie als Bauingenieurin arbeitete. Dann verschlug es sie nach Kirgisistan. Eine Freundin hat sie heute zum Bahnhof gebracht und uns gebeten, ihr später aus dem Zug zu helfen.

Der Stempel ist im Tresor und der Schlüssel natürlich beim Chef

Wir zelebrieren nun das, was wohl überall die beliebteste Beschäftigung während einer Bahnfahrt ist – wir essen. Alles wird auf den Tisch gepackt und jeder muss zugreifen. Am Abend verteilt ein Abteilnachbar original verpackte chinesische Hemden, die am nächsten Tag wieder eingesammelt werden sollen: Nachts überqueren wir schließlich die kasachische Grenze, und das Verzollen von Waren gilt als Gesichtsverlust.

Am Morgen geht die Sonne rot über den trockenen Ebenen Kasachstans auf und nur vereinzelt huschen Lehmgehöfte und Kamelherden vorüber. Die kleinen Stationen an der Strecke tragen keine Namen mehr, nur noch Nummern. Zeit, sich in die Schlange vor der einzig verbliebenen Toilette einzureihen, die zweite scheint defekt zu sein und bleibt verschlossen. Ein solch überstrapaziertes WC stellt zwar alle Sinne auf eine harte Probe, aber mit etwas Ignoranz erträgt man einiges. Solange die Bahnstrecke in der Nähe des Syrdarja, des zweitgrößten Stromes Zentralasiens, verläuft, bleibt unser Zug fest in der Hand der Trockenfischverkäufer. Sie zwängen sich zu Dutzenden mit ihren Plastiktaschen voller Fisch durch alle 16 Waggons und bieten ihre Ware an. An jedem Bahnhof steigen sie für eine kurze Strecke zu, um später die Bahn wieder zu verlassen und den Gegenzug abzuwarten, der sie zurückbringt. Dieser Ablauf wiederholt sich den ganzen Tag lang, und die ohnehin dicke Luft wird zur Fischsuppe. Gut, dass es die Haltezeiten erlauben, sich auf dem Bahnsteig die Beine zu vertreten. Hier kann man sich mit Reiseproviant versorgen: In langen Reihen bauen sich bei Zugeinfahrt dick vermummte Babuschkas auf der Plattform auf, vor sich Taschen, Schubkarren, ausgediente Kinderwagen. Handtücher und Decken halten große Töpfe warm, aus denen ich mir ein Menu mit dem Besten der asiatischen und russischen Küche zusammenstelle: Fladenbrot, gefüllte Teigtaschen, Hähnchenschenkel, Trockenkäse, Nüsse, Yoghurt, Eier, Würstchen und Obst. Wodka und Bier gibt es immer. Die Frauen bessern sich ihre kümmerliche Rente auf, die in Kasachstan nur dem Gegenwert von 5 bis 10 Euro entspricht. Sie verbringen den Tag auf dem Bahnhof und warten auf die wenigen durchfahrenden Fernzüge. Viele sind selbst nachts zur Stelle.

Unsere 80-jährige Babuschka – alle rufen sie nur so – macht dem ganzen Abteil Sorgen. Der Reisestress ist zu viel und sie hat womöglich einen leichten Hirnschlag erlitten. Jedenfalls glaubt sie, auf dem Weg nach Tadschikistan zu ihrer Baustelle zu sein und hat keine Ahnung mehr von ihrem Wohnort Bischkek und ihrem Rentenanliegen in Samara. Wir können ihr nur immer wieder den eigentlichen Zweck der Reise darlegen und hoffen, damit ihrem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. Mit zwei Beruhigungspillen schläft sie schließlich ein und am nächsten Tag, dem dritten, scheint das Kurzzeitgedächtnis Stück für Stück zurückzukehren.

Ganz wohl ist mir bei der Ankunft in Samara aber nicht. Jekatharina an der Seite und ihr Gepäck in der Hand steige ich auf die Plattform, wo sie aber zum Glück abgeholt wird. Mir fällt ein Stein vom Herzen – hatte ich doch schon das düstere Szenario einer russischen Bahnhofsmission vor Augen. Geschafft. Moskau grüßt mit trübem Wetter. Kaum zu glauben, wie schnell die drei Nächte und Tage vorbeigerattert sind. Man hat sich eingelebt, zusammen gegessen, erzählt, gelacht. Nun strömen die Menschen- und Gepäckmassen aus dem Wagen. Die Schaffnerin Tolja grinst mich an und wünscht „Doswidanja!“. Unbedingt!, denke ich. Die halbstündige Taxifahrt in Moskau kostet etwa ein Viertel des Preises der interkontinentalen Fahrkarte.

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