: Fantastischer Eisenbeton
Die Entdeckung der geschwungenen und geschweiften Linie, die Vernachlässigung der Funktionalität: In Paris baute der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer die Zentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs. Jetzt feiert ihn die Stadt mit einer großen Retrospektive im Jeu de Paume
von RUDOLF WALTHER
Eine scharfkantige politische Konstellation präsentiert sich mitten in Paris an der Place du Colonnel Fabien: Den Namen erhielt der Platz 1945 zur Erinnerung an den Résistance-Kämpfer, der mit bürgerlichem Namen Pierre Georges hieß und 1944 von der deutschen Besatzungsmacht getötet wurde. Genau an diesem Platz ließ sich die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) zwischen 1965 und 1980 in zwei Bauetappen ihren Sitz errichten – nach Plänen des Architekten Oscar Niemeyer. Die Fußgängerzone, die gegenüber dem KPF-Sitz liegt, trägt den Namen „Albert Camus“ (1913 bis 1960), an den eine über zwei Meter hohe Skulptur erinnert, die in Anlehnung an dessen „Homme révolté“ einen Mann zeigt, der sich gegen Zwang und Unterdrückung wehrt. Camus zerstritt sich in den 50er-Jahren mit den linken Intellektuellen, weil er diese für Einäugige hielt, die sich vor den Karren der KPF-Propaganda spannen ließen. Politisch hat sich der Streit erledigt, und ästhetisch harmonieren der elegante KP-Sitz und das Camus-Denkmal im urbanen Milieu.
Niemeyer wurde 1907 in Rio de Janeiro geboren und hieß eigentlich Oscar Ribeiro de Almeida de Niemeyer Soares. Wie er aus dem Gemisch aus portugiesischen, arabischen und deutschen Wörtern zu seinem deutsch tönenden Namen gekommen ist, weiß der alte Herr nicht mehr, ist jedoch „stolz“ auf diese typisch brasilianische Kreuzung, wie er in einem einstündigen Film von Marc-Henri Wajnberg gesteht. Der hervorragende Film ist in der großen Werkschau des Architekten im Pariser Jeu de Paume zu sehen.
Nach seiner Ausbildung trat Niemeyer in das Architekturbüro von Lucio Costa ein, mit dem er zusammen 1936 das Gebäude für das brasilianische Ministerium für Bildung und Gesundheit realisierte, das in seiner sachlich schlichten Konzeption stark von Le Corbusier beeinflusst war. In den 40er-Jahren schuf Niemeyer in Belo Horizonte die ersten eigenen Gebäude für den Freizeit- und Vergnügungspark Pampulha. Bereits zu dieser Zeit bricht Niemeyer mit dem von ihm als monoton empfundenen rechten Winkel und mit der sterilen Geraden. Als leidenschaftlicher Zeichner, der immer von der zündenden Idee ausging, entdeckte er die gebogene, gekrümmte, geschwungene und geschweifte Linie und stellte funktionale Überlegungen zurück. Gleichzeitig erkannte er im Eisenbeton das adäquate und fast beliebig formbare Material für seine an der Natur wie am menschlichen Körper orientierten Baukörper und Raumvorstellungen: „Das Wichtige für einen Architekten ist die Fantasie … Eisenbeton erlaubt der Architektur, die ein Sinn für Poesie besitzt, sich auszudrücken.“
Entscheidend wurde für Niemeyer die Wahl von Juscelino Kubitschek zum brasilianischen Staatspräsidenten im Jahre 1956. Kubitschek wollte die Modernisierung des Landes vorantreiben und ein Versprechen erfüllen, das die brasilianische Politik seit der staatlichen Unabhängigkeit 1822 vor sich her geschoben und 1891 im Artikel drei in der Verfassung festgeschrieben hatte. Demnach sollte die Hauptstadt vom kolonial geprägten Rio de Janeiro mehr in die Mitte des Landes verlegt werden, autonom und neu zentriert in der Retortenstadt Brasilia. Der Präsident beauftragte Niemeyer als Architekten und Lucio Costa als Urbanisten mit einem der ehrgeizigsten und umfangreichsten Bauprojekte aller Zeiten. Niemeyer bezeichnet es als Aufbruch des Landes in die Moderne und beschreibt im Film von Marc-Henri Wajnberg die Goldgräberstimmung, den Enthusiasmus und den ungebrochenen Fortschrittsglauben unter den beteiligten Architekten, Ingenieuren und Arbeitern, die sich als „egalitäre Gemeinschaft“ verstanden. Gebaut wurde, bevor die statischen Berechnungen abgeschlossen waren. In den Jahren 1957 bis 1963 entstanden in Brasilia Gebäude, die die moderne Architektur weltweit beeinflussten und veränderten. Mit dem Präsidentenpalast, dem Kongressgebäude, dem Nationaltheater, dem obersten Gerichtshof, der Kathedrale und zahlreichen Ministerien erhielt die Architektur der Moderne eine brasilianische Note. Brasilia wurde zum architektonischen Spektakel, das seine monumentalen Dimensionen nicht verbirgt, aber in jedem einzelnen Gebäude „eine strenge monumentale Würde“ (Niemeyer) und etwas vom „Abenteuerlichen“ bewahrt, das das Projekt auszeichnet.
Niemeyer war von 1945 bis 1990 Mitglied der kommunistischen Partei und bekam nach der Machtübernahme der Militärs in Brasilien (1964–1984) Schwierigkeiten mit den diversen Regimes. Diese nützten das neue Brasilia als Aushängeschild und korrumpierten mit ihrer politischen Praxis, die vor der Folter nicht zurückschreckte, den Geist, mit dem das Unternehmen begonnen hatte. Niemeyer floh nach Paris und verwirklichte von hier aus zahlreiche Projekte – darunter bahnbrechende wie das Kloster der Dominikanerinnen in Sainte Baume, die Universitäten in Algier und Constantine, das Haus der Kultur in Le Havre und das Gebäude des Verlags Mondadori in Mailand. Dieses konstruierte er als gewaltige Kolonnade aus eleganten Betonsäulen, die mit ihrem ungleichem Abstand den Raum gleichsam rhythmisieren. Die Kolonnade, die André Malraux in Begeisterung versetzte, spiegelt sich in dem sie umgebenden Wasser.
Als 84-Jähriger realisierte Niemeyer 1991 das Museum für moderne Kunst in Niterói – hoch über der Bucht von Guanabara vor dem berühmten Panorama Rio de Janeiros. Wie ein rundes Raumschiff, zum dem eine imposante Rampe führt, thront das Museum auf einem Fels. Um den uneingeschränkten Blick auf die Natur zu ermöglichen, hat Niemeyer die Ausstellungsräume durch eine Wand vom verglasten Rundweg als Außenwand des Gebäudes getrennt. Natürliche Umgebung und Kunst kommen durch das schlichte Arrangement, das zu Niemeyers Markenzeichen gehört, gleichermaßen zu ihrem Recht.
Bis 31. März, Jeu de Paume, kein Katalog
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen