: Das Sehen als Hören
Die erste Gebärdensprachschule Berlins eröffnet Hörenden neue Horizonte. Im Sommer 2001 wurde die Sprache gesetzlich aufgewertet. Humboldt-Uni plant Studiengang für Gebärdendolmetscher
von WALTRAUD SCHWAB
Wer blind ist, sei von Dingen getrennt, wer gehörlos ist, aber von Menschen. Knapper ist das Dilemma, in dem sich die rund 80.000 Gehörlosen in Deutschland befinden, nicht zu fassen. „Die nichts hören, bleiben unter sich“, gebärdet Peter Schick. Eine Dolmetscherin übersetzt, was der gehörlose 37-jährige Sozialpädagoge und Fachhochschuldozent sagt. Zusammen mit Mathias Schäfer hat er vor drei Monaten die erste Gebärdensprachschule in Berlin gegründet. Zielgruppe: Leute, die hören. Schick setzt sich für eine Sprache ein, die es zu entdecken gilt und die lange nur den Status eines Hilfsmittels hatte, obwohl sie linguistisch dem Gesprochenen in nichts nachsteht.
Dass etwas getan werden muss, damit die Gehörlosen gesellschaftlich besser integriert werden, hat auch die rot-grüne Regierung eingesehen. Seit dem 1. Juli 2001 ist neu geregelt, dass nicht mehr der Gehörlose die Verantwortung dafür zu übernehmen hat, wie er sich den Hörenden mitteilt, sondern die Gesellschaft muss nun die Verständigung gewährleisten. Der Rechtsanspruch auf Kommunikationshilfen wurde anerkannt. Bis dahin mussten Dolmetscher auf Ämtern oder bei Ärzten beispielsweise von Gehörlosen selbst bestellt und bezahlt werden.
Gehörlose begreifen sich als eine Minderheit, der lange kein Minderheitenschutz zugestanden wurde. Ihr bevorzugtes Kommunikationsmittel, die Gebärdensprache, gilt erst mit der Gesetzesnovelle von letztem Jahr als gleichberechtigt und damit – optimistisch interpretiert – als zweite Amtssprache in Deutschland. Im Zuge dessen werden seit kurzem auch Reden bei Parlamentsübertragungen in die Gebärdensprache übersetzt. Das heißt noch lange nicht, dass die Kommunikation nun gewährleistet ist, denn nicht viele Hörende beherrschen bisher die Gebärdensprache. „Eine Kommunikation aber nur in eine Richtung ist keine“, sagt Schick. Deshalb, so sein Appell, sollen Hörende die Gebärden lernen.
Der Zugang der Gehörlosen zur Bildung und ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind bis heute äußerst ungünstig. Viele beherrschen die deutsche Sprache, die sie wie eine Fremdsprache lernen müssen, nicht. Sie finden sich in den grammatischen Strukturen nicht zurecht. Um sich die Schwierigkeiten vorzustellen, sei Hörenden hier der Selbstversuch empfohlen, Chinesisch oder eine andere Fremdsprache mit unbekanntem Lautsystem bei einem stummen Lehrer zu lernen.
Für Gehörlose ging es bisher nicht nur darum, die Lautsprache zu können, obwohl sie nichts hören. Hinzu kommt, dass ihnen der Unterricht in allen Schulfächern vorwiegend auf Deutsch –für sie also in einer Fremdsprache – beigebracht wurde. „Im Durchschnitt erreichen Gehörlose das Bildungsniveau von Sechstklässlern“, berichtet Martin Marquard, der Landesbeauftrage für Behinderte in Berlin. Schätzungen Peter Schicks zufolge gibt es bundesweit nur etwa 50 gehörlose Studenten und Studentinnen. Das ist noch nicht einmal ein Promille aller Gehörlosen in Deutschland. Während im Vergleich dazu der Anteil der hörenden Studierenden bundesweit bei etwa 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung liegt.
Das neue Gesetz bringt allerdings nur langsam Erleichterungen für die Gehörlosen. Denn erst ab dem Jahr 2007 ist vorgeschrieben, dass alle Lehrer an Gehörlosenschulen die Gebärdensprache beherrschen müssen. Bis dahin wird das Lippenablesen, die deutsche Lautsprache und die Bildungsvermittlung in der deutschen Sprache noch im Vordergrund stehen. Trotz vieler bilingualer Schulversuche, bei denen der Unterricht teils in der Gebärdensprache teils in der Lautsprache geschieht.
Vor allem die emotionale und soziale Kompetenz der Kinder werde gefördert, wenn im Unterricht gebärdet werden darf. „Bilingualer Unterricht bringt einen Modernisierungsschub in der Pädagogik, selbst wenn er kein Wundermittel ist“, sagt Jens Heßmann, Professor an der Universität Magdeburg. Dort gibt es bereits einen Studiengang Gebärdendolmetscher. An der Humboldt-Universität (HU) soll Entsprechendes zum Wintersemester 2002/2003 eingerichtet werden.
Unter Hochschulexperten geht der Richtungsstreit um die Gebärdensprache trotz aller positiven Entwicklungen dennoch weiter. Klaus-Dietrich Große, Professor am HU-Fachbereich Rehabilitationspädagogik, ist ein ausgewiesener Skeptiker der Gebärdensprache im Unterricht. Er ist der Meinung, dass die verhältnismäßig kleine Gruppe der Gehörlosen besser beraten ist, wenn sie sich auf das Verständigungssystem der Hörenden konzentriert. Er befürchtet, dass Gehörlose noch mehr Nachteile in ihrem Leben haben, wenn nicht auf der Lautsprache im Unterricht bestanden wird. Warum die Aufwertung der Gebärdensprache in der Schule automatisch die Vernachlässigung der Lautsprache bedingen soll, kann er nicht erklären.
Beim Lippenablesen können etwa 30 Prozent der gesprochenen Mitteilungen ohne all zu große Missverständnisse verstanden werden. Der Rest wird vielfach geraten. Für Peter Schick, der nun in Berlin mit der Gebärdensprachschule in der hörenden Welt in die Offensive geht, war die Gehörlosenschule, in der beim Unterricht nicht gebärdet werden durfte, als Kind eine Zumutung. „Ich fühlte mich immer ignoriert“, erklärt Schick. Wohl aber fand er auf dem Schulhof Gleichgesinnte. Dort war die Gebärdensprache einziges Kommunikationsmittel. Gab es keine Zeichen für einen Sachverhalt, wurden sie erfunden.
Denn ganz im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Überzeugung ist die Gebärdensprache nicht international. Selbst innerhalb Deutschlands gibt es unterschiedliche „Dialekte“. Schon zweistellige Zahlen werden von Hamburgern anders gebärdet als von Berlinern. Dass allgemein angenommen wird, Gehörlose könnten sich international verständigen, ist dennoch nicht ganz falsch. Denn meist gelingt es ihnen innerhalb weniger Stunden, sich auf gemeinsame Gebärden zu verständigen.
Bisher lernten nur wenige Hörende die Gebärdensprache ohne private oder berufliche Notwendigkeiten. Da wird Schick ein Umdenken forcieren müssen. Im Falle der Gehörlosen zeigt sich nämlich, dass Integration immer das Engagement aller vorraussetzt.
Da Akustik bei der Gebärdensprache ausgeschlossen ist, wird durch Sehen „gehört“. Das Auge muss das komplexe Zusammenspiel von Mimik, Gestik und Gebärde innerhalb von Sekunden entziffern und interpretieren. Das wird im Unterricht trainiert. Stunden werden damit zugebracht, durch imaginäre Städte zu wandern und einem Gegenüber zu signalisieren, ob man sich gerade neben der Kirche, auf der Rolltreppe des Kaufhauses oder im Flugzeug über der Stadt befindet. Im Unterricht wird viel gespielt, denn es gilt, die Scheu vor der Expressivität zu verlieren. Weniger Frust ist damit nicht verbunden. Denn egal ob Gebärde oder Vokabel, beim Sprachenlernen muss alles ungefähr zehnmal wiederholt werden, bis es sitzt.
Eine Hommage an das Sehen ist der Name von Schicks neuem Unternehmen. „Visual hands“ heißt es. Mit zwei Schulräumen, zehn Klassen, viel Medieneinsatz fingen Schick und sein Kompagnon an. Jetzt zum zweiten Semester, das vor kurzem startete, sind es bereits 22 Klassen über die ganze Woche verteilt.
Neben Gebärdenunterricht gibt es zudem Gebärdenpoesie und Gehörlosentheater. Wer die Sprache lernt, sieht sich anders im Raum. So sind auch Vergangenheit und Gegenwart keine abstrakten grammatischen Strukturen mehr, sondern werden durch eine Orientierung vor oder hinter dem Gebärdenden ausgedrückt.
Teilnehmende kommen aus allen Bevölkerungsschichten. Darunter viele, die auf Ämtern arbeiten. Sie müssen sich auf die neue Situation, die durch die Gesetzesnovelle entstanden ist, vorbereiten. „Ich war noch nie gut im Sprachenlernen“, sagt eine Frau. Doch durch das Lernen der Gebärden merke sie, dass sie sich „in Gesprächen weniger introvertiert als bisher verhalte“ und mehr mit dem Gesicht und den Armen rede. Damit bestätigt sie, dass die Gebärdensprache – wie jede gesprochene Sprache – neue Horizonte öffnet.
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