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Aquarelle der Einsamkeit

Hexen in der chinesischen Provinz, heruntergekommene Naturschützer und die Nachfahren der Kulturrevolutionäre: Der Nobelpreisträger Gao Xingjian erzählt von der Reise zum „Berg der Seele“

Ich, du, sie– wer ist wer?Und wie viele ist einer?

von ANGELIKA OHLAND

Hat er oder hat er nicht? Diese Frage legt sich wie ein Fluch auf jede Zeile, die man liest. Und insgeheim wünscht man: Hätte dieser Autor doch den Nobelpreis nie bekommen. Dann könnte man diesen Roman einfach lesen, ohne gleich zu notieren, dass der stream of consciousness des Chinesen Gao Xingjian es mit dem Original des Iren Joyce lange nicht aufnehmen kann. Dann würde man nicht dauernd vergleichen und werten, sondern erst einmal eintauchen in die unzähligen Geschichten, die sich zwiebelartig aus der großen Romangeschichte herausschälen. Geschichten, die so sonderbar und überraschend sind, dass sie einen auf keinen Fall kalt lassen. Aber Gao hat nun mal im Jahre 2000 den Literaturnobelpreis erhalten. Und deshalb fragt man sich beim Lesen seines Hauptwerks, das nun auf Deutsch erschienen ist: Hat er ihn verdient oder nicht? Das Dumme ist: Auch nach über 500 Seiten kommt man über ein Jein nicht recht hinaus.

Das ist schade, denn „Der Berg der Seele“ ist ein sehr eigenwilliges Buch und ein echtes Unikat. Das liegt weniger an der Konstruktion als an seiner Flut von unerhörten Episoden, die beim Leser eine angenehme Gereiztheit der Sinne erzeugen. Unter den möglichen Lesarten ist jene, die den Roman im weiteren Sinne als eine Art Reiseliteratur begreift, die naheliegendste und keineswegs die schlechteste: Ein Schriftsteller, hinter dem leicht der Romanautor zu erkennen ist, reist durch die südlichen Provinzen Chinas, immer den Jangtse entlang. Eine Krebsdiagnose, die sich allerdings bald als falsch erweist, hat den Aufbruch und Ausstieg aus dem gewohnten Alltag provoziert.

Der Schriftsteller fährt mit Bus, Bahn und Schiffen, isst in Garküchen und schläft in Herbergen mit papierdünnen Wänden. Elektrisiert vom Namen eines Berges – des Lingshan, was „Berg der Seele“ heißt – folgt er den unterschiedlichen Wegen zu diesem abgelegenen Ziel. Dabei betätigt sich der Reisende als Sammler von Sitten, Gebräuchen und ungewöhnlichen Begebenheiten. Einen Mitgliedsausweis des chinesischen Schriftstellerverbandes in der Tasche, schreibt er auf, wem er begegnet und was er erlebt, vor allem aber, was die Leute erzählen. Gao lässt sein Alter Ego von Hexen und Schamanen berichten, von heruntergekommenen Naturschützern und geschändeten Jungfrauen in Banditenhand, von Bergstämmen, die sich gegen jede Form der Modernisierung als resistent erweisen, und jahrhundertealten Dynastien, deren im Volksglauben verwurzeltes Reich durch keine Kulturrevolution zu zerstören ist.

Es ist ein im Glauben wie im Aberglauben verharrendes, dabei außerordentlich gewalttätiges China, das Gao beschreibt. Seine Menschen verfügen über eine märchenhafte Vielfalt an spirituellen Techniken sowie über einen Gleichmut gegenüber den Bürokraten aus Peking, der zuweilen zum Starrsinn anschwillt. Untereinander können sie ziemlich heimtückisch und sogar brutal sein. Während die Kader Parolen des Fortschritts rufen, werden die Ehen hier noch von den Eltern arrangiert. Das Leben in diesen Provinzen ist gefährlich, wobei die Menschen die politischen Handlanger keinesfalls mehr fürchten als die Qi-Schlange, die „schrecklicher als ein Tiger“ ist. Da hackt sich ein Mann schon mal die Hand ab, um nach dem Schlangenbiss sein Leben zur retten – „was sollte daran schwer fallen?“, fragt er hinterher. Das Leben geht eben seinen Gang, und dem kann Gao eine sehr eigene Poesie abgewinnen: „Unterhalb der Landstraße wäscht sich eine junge Frau nackt am Flussufer, wenn sie Fahrzeuge auf der Landstraße vorbeifahren sieht, steht sie da wie ein Silberreiher, wendet nur den Hals und schaut gedankenverloren.“

Man möchte erzählen und erzählen. 81 Kapitel sind 81 Geschichten, und jede steht für sich. Nie ist man versucht, ihren Sinn in Metaphern und anderen Überhöhungen zu suchen. Nie kommt der Verdacht auf, man habe es mit folkloristischen Possierlichkeiten zu tun. Das ist viel Gutes, was sich über dieses Buch sagen lässt.

Gao ist ein starker, sinnlicher Erzähler. Aber er hat auch einen modernen Formwillen, der zur Verausgabung neigt. In geometrischer Strenge lässt er den Protagonisten in den 81 Kapiteln abwechselnd als „ich“ und als „du“ auftreten, wodurch dessen Reise als innerer Monolog Gestalt annehmen soll. Auch die Frauen, die der Reisende zahlreich liebt, werden nie namentlich, sondern nur mit Personalpronomen genannt – wie Aquarellfarben verlaufen Wunsch und Wirklichkeit, Traum und Reise ineinander. Ich, du, sie – wer ist wer? Und wie viele ist einer? So expandiert Gao die Spanne des gleichzeitig Erfahrbaren auf ein Maximum.

Sein großes, alle Episoden durchziehendes Thema aber ist die Einsamkeit. „Seit meiner Geburt bin ich Flüchtling“, sagt der Erzähler von sich selbst, und dieser Aussage folgt der Roman in jeder Zeile. Die Reise zum Berg der Seele entpuppt sich zunehmend als Irrfahrt durch eine verlorene Heimat, die dem Erzähler mit jedem Schritt, den er tut, fremder wird. Dass sich diese Einsamkeit des Individuums notgedrungen am Kollektivismus der chinesischen Gesellschaft bricht, sorgt für einen Effekt der größtmöglichen Verstärkung. Insofern sind die Seitenhiebe auf die Nachfahren der Kulturrevolutionäre nicht nur politisch, sondern auch literarisch motiviert.

Gao, der nach den Massakern auf dem Platz des Himmlischen Friedens endgültig mit der chinesischen Politik gebrochen hat und nun in Paris lebt, zeichnet von sich selbst das Bild eines radikal apolitischen Autors. Als intellektuellen Orientierungspunkt gibt er vor allem Beckett an. Dennoch hat dieser Roman seine Wurzeln in einem klaren Realismus, und die apolitische Haltung kann man auch als Kehrseite eines durch und durch politischen Denkens verstehen. Damit passt Gao gut in die Reihe der Literaturnobelpreisträger, bei deren Wahl in den letzten Jahren fast immer politische Motive eine Rolle spielten.

Das ist nicht verwerflich, schützt aber nicht vor der Frage: Hat er oder hat er nicht? Die formellen Finessen des Romans jedenfalls sind für westliche Leser vielfach durchdekliniert und wenig aufregend. Doch wer Gao mit westlichen Schriftstellern vergleicht, zieht schnell den Vorwurf des Eurozentrismus auf sich. Man dürfe einen chinesischen Roman eben nicht nach westlichen Maßstäben beurteilen, heißt es dann. Nur welche Kriterien sollen es denn bitte sein? Auch wenn man weiß, dass die eigenen Maßstäbe nur relativ sind, so hat man doch keine anderen. Dabei hätte man den „Berg der Seele“ gerne einfach als herausragenden Reiseroman über China gelesen.

Gao Xingjian: „Der Berg der Seele“. Aus dem Chinesischen von Helmut Forster-Latsch, Marie-Luise Latsch und Gisela Schneckmann. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, 548 Seiten, 29,90 €

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