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Le président kommt nie zur Ruhe

Für seinen Erlebnispark „Vulcania“ wählte erdie Toilettenfliesenpersönlich aus

aus der Auvergne DOROTHEA HAHN

„Viva Vulcania“ – der Mann mit den bräunlichen Flecken auf der Glatze und dem knallroten Anorak über der eleganten Hose ruft die Worte energisch ins Mikrofon. Eintausendzweihundert Schulkinder umrahmen ihn. Eisiger Regen geht über sie nieder. Die in rote Capes gekleideten Kinder sind im Pulk eine Rampe heruntergerannt, wie ein glühender Lavafluss auf den alten Mann zugeströmt. Im Chor erwidern sie seinen Ruf. „Viva Vulcania“, kommt es drei Mal aus 1.200 Kehlen. Der „europäische Park für Vulkanismus“ ist eröffnet.

Der 76-Jährige hat die Choreografie bis ins Detail vorbereitet. Am Abend dieses 20. Februar 2002 sollen die nationalen Fernsehnachrichten zeigen, dass die großen Kulturereignisse jetzt in den Regionen stattfinden. Nicht mehr in Paris, wo er selbst auf den Tag genau 25 Jahre zuvor den Tempel für die moderne Kunst, das Centre Pompidou, eingeweiht hat. Damals war er der jüngste Präsident der V. Republik.

Lächelnd steht Valéry Giscard d’Estaing am Eingang zu seinem Park, der die Region, Paris und Brüssel 101 Millionen Euro gekostet hat, und schüttelt kleine Hände. „Ihr seid das Bindeglied zwischen der Vergangenheit und der Zukunft“, sagt er den Kindern. Sie kommen aus den vier Departements der Auvergne. Seine Region, „die schönste Westeuropas“, wie er sagt.

Seit Generationen residiert die Familie Giscard d’Estaings auf Schloss Varvasse am Fuß der Vulkanlandschaft im französischen Zentralmassiv. Nach geschäftlichen Ausflügen in die Ferne kommt sie immer zurück. Auch er. In der Auvergne hat er vor fünf Jahrzehnten seine politische Karriere begonnen. In die Auvergne kam er 1981 zurück, nachdem ihn bei der Präsidentschaftswahl der Sozialist Mitterrand geschlagen hatte.

Bei seiner Rückkehr trug er bereits den Titel le président. Auf Lebenszeit. Er zog sich nicht auf Schloss Varvasse zurück, sondern stieg in den Regionalrat ein. In eine jener neuen Institutionen, die im Zuge der Dezentralisierung Macht bekommen hatten. Sein „langer Arm“, seine Kontakte in die ganze Welt verstehen die Auvergnats als Chance für ihre zurückgebliebene Region, aus der Hunderttausende auf der Suche nach Arbeit abwanderten. Fast immer wählen sie ihn im ersten Durchgang in die Ämter, für die er kandidiert. Seit 17 Jahren führt er die Geschäfte des Regionalrates. Bestimmt über Straßen, Schulen und Flughafenbauten in der Region.

Chamalières ist Giscard d’Estaings Hochburg. Ganz Frankreich lernte den Namen des Villenvororts von Clermont-Ferrand kennen, als er 1974 Staatspräsident wurde. Vorher war er hier Bürgermeister. Nachher wurde er hier Regionalratspräsident. Viele Einwohner von Chamelières nennen ihn familiär „Giscard“. Alle kennen ihn. Eine alte Dame glaubt, der „saubere und gepflegte“ Stadtgarten Montjoly sei ihm zu verdanken. Ein Lkw-Fahrer vermutet, „ohne ihn gäbe es hier immer noch kein Schwimmbad“. Ein junger Arbeitsloser, der 1981 zur Welt kam, hat gehört, dass „er meiner Mutter mal sehr geholfen hat“. Was „Giscard“ für die Mutter getan hat, weiß der Junge nicht. Wählen würde er ihn auch nicht. Er wählt überhaupt keine Politiker, „weil die eh tun, was sie wollen“. Aber „gut“ findet er ihn trotzdem: „Einer von hier.“

Für den einzigen lebenden ehemaligen Staatspräsidenten Frankreichs war die Regionalpolitik immer nur eines von mehreren Standbeinen. Fast jedes Jahr schrieb er ein politisches Buch. 1994 auch einen erotischen Roman über eine Affäre zwischen einem einsamen alten Jäger und einer jungen Anhalterin. Sie spielt in der Auvergne. Jäger ist Giscard d’Estaing auch.

Seinen Nachfolgern im Élysée-Palast hält Giscard d’Estaing seit 21 Jahren vor, „nicht auf der Höhe“ zu sein. Immer wieder droht er mit einer neuen eigenen Kandidatur. Nebenbei erinnert er daran, dass er, zusammen mit Helmut Schmidt, der Vater des Euros sei. Und erteilt Lektionen in internationalen Fragen. „Warum wir keine Angst vor einem US-Präsidenten Bush haben müssen“, schrieb er Ende 2000 in einem Artikel.

Im Regionalrat der Auvergne nicken die 47 Räte die Projekte von le président ab. Von der Flughafenerweiterung über die neue Autobahn A 89 bis hin zum geplanten Messezentrum „Grande Halle“. Selten regt sich Widerspruch bei Grünen oder Kommunisten. Noch seltener bei den Sozialdemokraten. Le président sei brillant, geben selbst seine Gegner zu. Er kommt gut vorbereitet in Sitzungen. Er kann reden. Sein ortstypisches Zischen bei S-Lauten gefällt. Und er versteht es, Tagesordnungen so zu organisieren, dass die Journalisten schon weg sind, wenn seine Kritiker zu Wort kommen. Wenn er den Räten etwas vorschlägt, ist das Paket längst geschnürt. Die kontroversen Diskussionen sind abgeschlossen. Hinter verschlossenen Türen, in seinem Präsidium.

Die Auvergne ist ein Land von Monopolen. Die einzige große Industrie ist der Reifenhersteller „Michelin“. Die einzige Zeitung die Montagne. In der Politik gibt es zwei Pole: den Rechtsliberalen Giscard d’Estaing für das Regionale und die Sozialdemokraten, die seit Kriegsende die Großstadt Clermont-Ferrand regieren. Als le président dieses Gleichgewicht brechen wollte, ist er knapp gescheitert. 1995, beim Versuch das Rathaus von Clermont-Ferrand zu erobern, fehlten ihm 700 Stimmen zum Sieg.

„Giscard hält sich für unersetzlich“, sagt einer seiner schärfsten Kritiker in der Auvergne, Jean-Michel Duclos von den Grünen. Einige Jahre hat er als Regionalrat versucht, den Themenpark „Vulcania“ zu verhindern. Weil er auf 1.000 Meter Höhe mitten in ein Naturschutzgebiet gebaut wurde. Weil er zu teuer ist. Weil er Autoströme anlockt. Und weil er zu weit von der Stadt Clermont-Ferrand entfernt ist. Jetzt schreibt er ein Buch über Giscard d’Estaing und dessen einflussreiche Netze. Dazu gehören auch Politiker der katholischen Fundamentalistenorganisation „Opus dei“. Sie waren schon als Minister dabei, als le président in Paris war. „Er ist ein gefährlicher Mann“, warnt Duclos, „ich verstehe nicht, dass die sozialdemokratischen Regierungen in Europa ihn an die Spitze des Konvents gesetzt haben.“

In der Kneipe neben dem Rathaus von Chamalières haben sie eine einfache Antwort auf Duclos. „In Paris wollten sie Giscard loswerden“, sagt ein Kunde und grinst, „er war Chirac und Jospin zu gefährlich. Deswegen wird er jetzt Europapräsident.“ Sein Nebenmann am Tresen findet, le président sollte sich zur Ruhe setzen: „Das Geld dazu hat er.“

Die Finanzen von Giscard d’Estaing waren in der Auvergne selten Thema. Nur hinter vorgehaltener Hand sprach man Anfang der Achtzigerjahre über das Diamantengeschenk, das Kaiser Bokassa, der Diktator aus Zentralafrika, dem französischen Staatspräsidenten gemacht hatte. 20 Jahre danach machte die europäische Debatte über Giscard d’Estaings Honorarforderungen im Konvent einen Bogen um die Auvergne. In Brüssel soll Giscard d’Estaing so viel verlangt haben wie ein EU-Präsident: 20.000 Euro pro Monat. Er selbst bestreitet das. Bekommen wird er als Konventspräsident jedenfalls einen Spesensatz von 1.000 Euro pro Tag. Immer noch fast so viel wie der monatliche Mindestlohn in Frankreich. Seine französischen Bezüge behält er natürlich. Die 4.603 Euro für das Amt als Regionalratspräsident, die 6.615 Euro für seinen Sitz im Pariser Parlament, die 5.695 Euro als früherer Staatspräsident. Dazu kommen Entschädigungen für seine Tätigkeit als Präsident der Stiftung für die Demokratie in Europa, der Betreibergesellschaft von „Vulcania“ …

Er kommt gut vorbereitet in Sitzungen des Regionalrats. Schlägt er etwas vor, ist das Paket längst geschnürt

Giscard d’Estaing geht nach Europa und bleibt in der Region. „Zwei Tage die Woche in der Auvergne reichen“, sagt er. Wenn er baut, und das tut ein Regionalratspräsident oft, will er auch in Zukunft die Ausführung überwachen. Wie bei der Schulrenovierung in Clermont-Ferrand im vergangenen Jahr, als der Architekt die Wandfarbe der Gänge ändern musste. Wie bei „Vulcania“, wofür le président persönlich die Toilettenfliesen auswählte. Es ist sein Park.

Das ist das fait du prince, sagen die Kritiker schulterzuckend – das Recht des Prinzen. Sie bezweifeln, dass „Vulcania“ lebensfähig ist, dass der Park schon im ersten Jahr schwarze Zahlen schreibt, 500.000 Besucher anziehen und stabile neue Arbeitsplätze schaffen kann. Schließlich steht mit dem „Futuroscope“ in der Nachbarregion ein Themenpark am Rand des Abgrunds. „Vulcania“ nennen sie „Giscardoscope“.

Le président findet das „traurig“. Mehr sagt er nicht dazu. Kritiker lässt er abprallen. 1981, als die Franzosen ihn als Präsidenten abgewählt hatten, drehte er ihnen vor laufender Fernsehkamera den Rücken zu und ging durch die Tür weg. Im Regionalrat lässt er sich von einer mademoiselle die Dokumentenmappe für Unterschriften bringen, wenn seine Kritiker reden. Das Publikum kann durch eine Glaswand zuschauen und -hören.

Als Nächstes soll Giscard d’Estaing jetzt Vorschläge für ein demokratisches und transparentes Europa entwickeln. So lautet der Auftrag der EU an den Präsidenten des Konvents. Nachdem er die eintausendzweihundert Kinder an diesem Tag in die Ausstellungshallen von „Vulcania“ gebeten hat, gibt er eine Pressekonferenz. Er steht allein auf der Bühne. „Kommen Sie hoch zu mir, ich brauche einen Statisten“, ruft er dem Architekten des Erlebnisparks zu. Dann erklärt er: „Europa kann nur funktionieren, wenn es bürgernah ist.“

Seit der Berufung zum Konventspräsidenten im Dezember hält sich Giscard d’Estaing politisch zurück. „Europa ist eine Union von Staaten, die ihre Kompetenzen gemeinsam ausüben. Auf föderale Art“, ist jetzt seine weitestgehende Erklärung. Früher sprach er im Gegensatz zu fast allen anderen französischen Politikern, von einer „Föderation“ und einer „gemeinsamen Verfassung“.

Die Zukunft in Europa will le président auch in der Auvergne vorbereiten. Dazu wird er auch den Konvent zu sich, nach „Vulcania“, einladen. Nicht alle 105 Mitglieder. Nur die zwölf Personen an der Spitze. „Mein Präsidium“, sagt er.

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