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Tomatenroter Hausaltar

Morgen beginnt die Formel-1-Saison. Stecktabelle, Steaks und Fans – alle sind bereit

Man braucht einen Wecker am Bett und einen auf dem Klo. Falls man da vorher einnickt

Au weia. Um Himmels willen. Katastrophe. Große Katastrophe. Seeehr groooße Katastrophe. Mitten im April 2001 rauschte ohne Ankündigung ein nicht vorgesehener Windstoß durch die Wohnung und fegte sie vom Fernseher. Ein Wimpernschlag nur, und da kauerte sie, mit der Frontpartie nach unten, auf dem Parkett. Zack, patsch, bumpf. „Neeein! Neeein! Das kann doch nicht wahr sein!“ Entgeistert blickte die Frau in Richtung des Bildschirms. Ein rotes Vehikel toste die Traguardo entlang und raste auf die Rivazza zu. „Kaputto! Totalo kaputto“, schluchzte sie, „im Eimer. Warum passiert das immer mir?“ – „Komm“, versuchte ich sie zu beruhigen, „die kriegen wir wieder hin.“ Elf eckige und zweiundzwanzig runde, bunte, daumengroße Kärtchen mit Lasche lagen verstreut herum, hinter und vor der Glotze. Dazwischen, eingeknickt, ein Karton von der Größe zweier DIN-A4-Seiten. Unser Hausaltar für ein halbes Jahr.

„Da, ich hab ihn!“ Die Frau sammelte, auf allen vieren kriechend, ein. Hier einen Villeneuve, dort einen quecksilbernen McLaren-Mercedes, da einen Fernando Alonso. „Stronzo!“, grummelte ich, als ich, beiläufig zum Fernseher aufschauend, sah, dass Coulthard Barrichello kassiert hatte. Triumphierend reckte sie ein Stückchen Pappe in die Höhe. Ein Helm. Oben, im Kreis der das wertvolle Schädeldach schützenden Schalenpartie, blinkten weiße Sterne auf orangefarbigem Firmamentgrund. „Der Mischael, der Mischael“, lachte sie, und ich stimmte in ihre Freudenbekundung ein. „Et jeht doch, et jeht doch!“

Unsere, nein: ihre, die Kicker-Stecktabelle der Frau. Die „große Stecktabelle für die WM-Wertung“. Erstmals hatte das Sportmagazin Kicker im vergangenen Jahr ein Special zur Formel-1-Saison herausgegeben, inklusive einer Stecktabelle! Während in kaum einer Kneipe mehr die früher aus Stahl gefertigte Sonderedition oder wenigstens die jährlich erneuerte papierne Bundesliga-Stecktabelle das Schnapsregal ziert, gehört „Die Super-Stecktabelle“ zu unserem Hausstand. Unverrückbar. Unverzichtbar. Ohne „Die Formel-1-Super-Stecktabelle Fahrer-WM 2002“ wären wir für die kommenden Monate nicht gerüstet.

Heute nacht beginnt sie, endlich, die 53. Formel-1-Weltmeisterschaft. Elf Teams, symbolisiert durch die viereckigen Rennwagensticker, bewerben sich darum, auf der rechten Seite in eine uns genehme vertikale Rangfolge gebracht zu werden. Links stecken wir die Fahrer – einem schwungvollen, halbmondartigen Ordnungsmuster der Stecktaschen gehorchend. „Mit der Stecktabelle bleiben Sie in der WM-Wertung immer auf dem neuesten Stand“, lobt der Kicker zu Recht sein tomatenrotes Gimmick. „Oder Sie bauen die Startaufstellung nach.“

Au ja! Zum Auftakt des Wochenendes, am Samstag in der Früh. Um 4.00 Uhr ist das Qualifying vorbei, und dann bauen wir nach. Und legen anschließend mit den Vorkehrungen für den echten Start im Albert Park los – Sonntag, 4.00 Uhr MEZ, Melbourne, Großer Preis von Australien.

Mitgucker, Mitfan, Mitmensch Holger Suppaforciert seit Tagen die vorbereitenden Maßnahmen. Er habe, sagt er, fünf telefonische Weckdienste beauftragt und beim Tengelmann noch schnell drei Wecker gekauft. Einen könnten wir abhaben. Man brauche einen am Bett und einen auf dem Klo. Falls man da vorher aus Versehen einnicke. Und ob uns zwölf T-Bone-Steaks reichen würden? Für den Elektrogrill sei im Wohnzimmer doch Platz, oder?

Gewiss, gewiss, versichert ihm die Frau während einer Handyschaltung und bedeutet mir, die Pilze unter die Zwiebeln unter das Joghurt unter den Senf zu heben. Ich bin da irgendwann mal reingerutscht, und jetzt verbringe ich als gescheitertes Mitglied der Gesellschaft meine Sonntage damit zuzusehen, wie Benzin aus Auspuffen geblasen wird. Bzw. dieser herrlich beißende Qualm!

„Die Eier! Die Eier!“, ermahnt mich die Frau, die Kippe im Mundwinkel, ein Fass Paprikapulver öffnend. Suppa klingelt durch und fragt, ob zwei Paletten Sprite und ebenso viele mit Dosen-Licher genügten. „Dass hinterher die F-1-Konzert-Sound-CD nicht fehlt!“, fauche ich zurück.

Unserer neuen Super-Stecktabelle fehlt nichts. Ihr fehlt kein Eddie Irvine und kein BAR-Honda. Beide hatte der 2001er Windstoß verblasen. Heute bzw. morgen bleiben die Fenster geschlossen. Da lässt sich nämlich viel schöner schreien und bestialischer brüllen. Denn Formel 1 zu schauen, befasele ich die Frau kokett und nett, sei der archetypische Ritus des geistig zurückgebliebenen Mannes.

„Und ich, du Doofmann? Ich bin auch archetypisch! Und richtig ritisch. Da kannst du deinen Klosterfrau Melissengeist drauf verwetten! Und um 5.30 Uhr musst du mit mir stecken.“

JÜRGEN ROTH

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