: Ein Dorf am Ende
Der britische Schriftsteller Colin Thubron besucht ein Nomadendorf in Sibirien
Auf seiner Reise durch Sibirien Ende der Neunzigerjahre besucht Colin Thubron das Enzendorf Potapowo. Die Enzen oder Enets gehören wie die Nenets zum Volk der Samojeden, wohnen aber weiter westlich, am Fluss Jenissei:
Nur ein paar hier und da am Strand liegende Fischerboote deuteten darauf hin, dass der Ort noch bewohnt war. Auf einem steilen Pfad stieg ich den grasbewachsenen Hang hinauf, die Matrosen hinter mir her. Alles war still. Der Fahnenmast über uns sah aus, als ob daran noch nie etwas geweht hätte. Oben fanden wir ein Verwaltungsgebäude, das allem Anschein nach schon seit Jahren mit Brettern vernagelt war. Hunde stöberten darunter zwischen den Pfeilern herum. Doch weiter hinten saß ein bärtiger Kauz mit Wollmütze auf einem Dach und hämmerte Schindeln fest. … „Brauchen Sie Hilfe?“ Er kraxelte herab. Er war der Dorfarzt. Ich hätte mir den hiesigen Arzt als eine einsame, verkrachte Existenz vorgestellt, dem Trunk und der Apathie ergeben, aber Nikolai war ein fünfzigjähriger Optimist. Im Dorf herrschten barbarische Zustände, sagte er, und wenn ich mich bei einer Familie einquartiere, könne ich gut und gern bei einem Gerangel ein Messer in den Leib kriegen, wie es der Hälfte der Patienten ergangen sei. Er werde mir ein Bett in seinem Dorfkrankenhaus geben – etwas anderes komme nicht in Frage. Er deutete hinter sich. Jenseits der Uferanhöhe fiel der Blick auf eine weitläufige Ansammlung ärmlicher Bruchbuden. Dies war Potapowo, und es war am Verfallen. Durchgebogene Laufbretter verbanden die einzelnen Hütten, und über dem glitschigen herbstlichen Matsch waren alle Pisten mit Kohlenstaub planiert. Die Luft stank danach. Überall lag Müll, und seit langem defekte Traktoren standen als verrostende Schrotthaufen in der Gegend.
Wir gingen los. „Es ist eine verzweifelte Situation. Früher war das hier ein Pelzhandelszentrum und zu Chruschtschows Zeiten eine Rentiersowchose. Aber jetzt sehen Sie selbst!“ In einem kohlschwarzen Tümpel glitzerten weggeworfene Wodkaflaschen. „Die Rentierweiden hat der saure Regen ruiniert. Er kommt aus den Nickelfabriken von Norilsk. Mit schuld sind auch die Erdgaspipelines von der Halbinsel Taimyr – die Wildrene trauen sich nicht darüber hinweg. Was sollen die Leute hier also machen? Sie fischen halt ein bisschen und verkaufen ihren Fang an vorbeikommende Dampfer. Die Passagiere kaufen, weil es billiger ist als in der Stadt. Die Menschen hier leben am Rand des Verhungerns.“
Ein paar von ihnen, in Mäntel und Regenschutz gehüllt, saßen in der letzten Sonne des Jahres vor ihrenTüren. Sie hatten träge, bittere Gesichter. Nichts wuchs hier. Auf ihren Grundstücken gab es nur Kohlenhaufen und Tonnen mit Flusswasser. Als wir vorbeigingen, stürzten angekettete Hunde aus windschiefen Hütten auf uns zu – weiße Huskys, die sich durch ihr Anspringen selbst das drohende Bellen und Knurren abwürgten. Ein flüchtiger Blick durch einzelne Fenster zeigte außer dem dürftigen Mobiliar nichts als Überlebenshilfen für den Winter – Decken, Filzstiefel, Lehmöfen. Ein paar Schlitten verrotteten im Gras [S. 164 f.].
Colin Thubron: „Sibirien. Schlafende Erde – erwachendes Land“. A. d. Engl. von Hans-Ulrich Möhring. © 1999 Colin Thubron. Klett-Cotta, Stuttgart 2001
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