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Wirklich da sein, wirklich sehen

Wie viele Lebensläufe durchlebt ein Mensch? Die Unabhängigkeitskriege Afrikas, den Fall des Schah-Regimes, den Untergang des sowjetischen Imperiums – all das hat Ryszard Kapuscinski genau beschrieben. Eine Begegnung mit dem großen Reisenden, der heute siebzig Jahre alt wird

„Niemand geht nach Afrika, um sich selbst zu entdecken. Das passiert nebenbei.“

von HEIKE HAARHOFF

Ryszard Kapuscinski hat keine Zeit. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, sagt seine Lektorin beim Frankfurter Eichborn Verlag, dass er das Gefühl hat, die Zeit läuft ihm davon; er wird doch am heutigen Montag schon 70, und er muss noch so viele Länder bereisen, er muss noch so viel schreiben, er hat noch so viel zu sagen, und wenn er gerade einmal nicht unterwegs ist in Afrika, Lateinamerika oder Asien, sondern zu Hause in Warschau, dann braucht er die Zeit zum Notizensichten und Bücherschreiben und nicht für Interviews. Schon gar nicht für solche, die um ihn gehen sollen. Denn darum ist es ihm noch nie gegangen. Um sich.

Ich war und bin fasziniert von den Menschen in der Dritten Welt, die im Kampf ihre eigenen Staaten und Nationen schufen. Das ist das Thema meines Lebens. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich aus einem armen Teil Europas stamme. Als ich sieben Jahre alt war, brach der Krieg aus. Oft litt ich Armut und Hunger. Vielleicht komme ich deshalb so leicht mit Menschen zurecht, die immer davon träumen, etwas ihr Eigen zu nennen.

Zuweilen aber gibt es gewisse Zwänge. Zuweilen sinniert ein Verlag über Bücher und ihre Vermarktung. Und deswegen soll Ryszard Kapuscinski zuweilen eben doch reden, und er soll lesen; Bücher verkaufen sich gewöhnlich besser, wenn das Publikum den Autor kennt, zumal wenn dessen Biografie spannend ist. „Kapuscinski“, so hat es der Sender Freies Berlin verbreitet, „ist mit Nomaden durch die Wüste gezogen und mit Partisanen durch den Busch; stets hat er die vorderste Frontlinie gesucht, und zwischen brennenden Barrikaden ist er zum Fernschreiber gekrochen, um als Auslandskorrespondent zu berichten. Wer so etwas vierzig Jahre macht, der hat ein paar Geschichten zu erzählen.“ Der ist mit allen Wassern gewaschen, der lässt sich so schnell nichts vormachen, der weiß, wo es langgeht.

Der kommt beinahe pünktlich zur Verabredung und spricht leise und sieht aus, als habe er es darauf angelegt, mit allen Reporterklischees aufzuräumen: Da steht kein breitschultriger Abenteurer, der die Welt im Griff hat. Ryszard Kapuscinski hat einen leichten Silberblick und ist von einer Statur, die Fitnessstudios das große Geschäft wittern ließe. Sein Anzug ist so schlicht wie grau, und dennoch ist die Bescheidenheit bar jeder Koketterie: Ryszard Kapuscinski ist sich seiner Qualitäten und seines Ruhms durchaus bewusst. Er macht keinen Hehl daraus, dass er mit seinen Reportagen über Alltag und Krieg in Afrika und Lateinamerika, über Intrigen, Niedergang und Fall des Schah-Regimes oder des sowjetischen Imperiums so ziemlich sämtliche wichtigen europäischen Schriftstellerpreise abgeräumt hat. Und natürlich, sagt er, „ist es eine gewisse Befriedigung, sagen zu können, du warst wirklich da, du hast das wirklich gesehen“.

Mehr als alle Erscheinungen von Aggression … interessiert mich das bei einzelnen Menschen und ganzen Gesellschaften sichtbare Streben nach Normalität, nach der beinahe automatischen Rückkehr zur Normalität, wenn diese einmal gestört wurde. Dem Eifer des Menschen bei der Reparatur einer zerstörten Brücke, beim Zuschütten von Bombenkratern, beim Verputzen zerschossener Mauern fehlen jedoch die Dramaturgie, die Spannung, die emotionellen Schauer, die Atmosphäre des Schreckens …, die wir erleben, wenn wir Szenen des Kampfes, der Zerstörung, der Vernichtung beobachten. Wenn daher die Normalität gegen diverse Exzesse um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren muss, ist sie chancenlos.

Wirklich da sein, wirklich sehen. 1956, mit 24 Jahren, reist Ryszard Kapuscinski erstmals nach Afrika, weg aus Polen, weg aus einer Gesellschaft, die der Kalte Krieg hat erstarren lassen, weg aus dem Stillstand, den er bis heute kaum erträgt. „Was mich interessiert, sind Ereignisse“, sagt er, „das Land, aus dem ich berichte, ist zweitrangig.“ Er erlebt einen Kontinent der Bewegung, des Aufbruchs, der Euphorie. Es ist der Beginn der Entkolonialisierung, Afrika rückt auf die Titelseiten westeuropäischer, amerikanischer und polnischer Zeitungen; Ryszard Kapuscinski ist einziger Afrika-Korrespondent der staatlichen polnischen Nachrichtenagentur.

Welche Rolle spielt es da, dass die Bedingungen widrig sind? Die Nachrichtenagentur hat kein Geld für komfortable Hotels und schnelle Transportmittel. Ryszard Kapuscinski entscheidet sich für die Welt der Einheimischen, allen Widerständen zum Trotz, die ihm, dem Fremden, dem Weißen, dem Europäer entgegengebracht werden, weil er sich nicht benimmt, wie ein Fremder, ein Weißer, ein Europäer sich zu benehmen hat. Er schleppt sein Wasser wie sie, er wartet stundenlang in sengender Hitze auf überfüllten Busbahnhöfen wie sie, er wird todkrank wie sie. Er reist trotzdem nicht ab oder gerade deswegen nicht: Sein Arbeitgeber, fürchtet er, würde ihn womöglich nicht wieder nach Afrika zurückkehren lassen.

Mit Masochismus hat das nichts zu tun, mit Nervenkitzel und Waghalsigkeit und Grenzüberschreitung wohl auch nicht. „Niemand geht nach Afrika, um sich selbst zu entdecken“, sagt er, „das passiert nebenher.“ Was ihn antreibt, ist – „neben dem Idealismus und dem Hang zum Missionarischen, den man für diesen Beruf wohl braucht“ – sein sehr eigenwilliger Arbeitsstil, der anderes Verhalten ausschließt: Er muss die Sorgen, Nöte, Freuden, Lebensgewohnheiten einer Gemeinschaft teilen, weil nur beschreibbar ist, was erlebbar ist. Es gibt wohl außer ihm kaum jemanden, der selbst einem Malariaanfall Poetisches abgewinnen kann.

Es ist eine plötzliche, gewaltsame Attacke von Kälte. Subpolarer, arktischer Kälte. Da hat uns jemand, nackt und eben noch in der Hölle des Sahel oder der Sahara schmorend, gepackt und mit einem Mal in die eisigen Höhen Grönlands und Spitzbergens geschleudert … Was für ein Schlag! … Wir betreten eine Welt, von der wir noch vor einem Moment nichts wussten, dabei stellt sich jetzt heraus, dass sie gleich neben uns existierte, bis sie uns schließlich übermannte und wir zu einem Teil ihrer selbst wurden.

Ryszard Kapuscinski ist immer allein unterwegs, oft monatelang, zuweilen ein ganzes Jahr. Es geht ja auch nicht anders, findet er: Die anderen lenken bloß ab, beeinflussen die eigene Wahrnehmung, stören. So wie das britische Kamerateam, mit dem er einmal, ausnahmsweise, durch Äthiopien reiste. Kaum dass sie im Hochland angekommen waren, packten die Journalisten ihre Handys aus und erkundigten sich nach dem Wetter und dem Befinden der Lieben daheim. „Mit ihren Gedanken hatten sie London nie verlassen.“ Unnötig zu erwähnen, wie sehr ihm das missfällt.

Er hingegen kappt während seiner Abwesenheit jeglichen Kontakt, ist unerreichbar, entfremdet sich, taucht ab in eine Welt, aus der er andere, böswillig formuliert, bewusst ausschließt. Was seine Frau, was seine Tochter daheim in Polen dazu in all den Jahren gedacht haben mögen, ist eine Frage, der Ryszard Kapuscinski mit charmanter Ignoranz ausweicht: „Ich fühle mich nicht einsam.“

Wie viele Lebensläufe kann jeder von uns durchleben? Mehrere, sogar entgegengesetzte … Ich glaube … an die Reinkarnation des Menschen zu Lebzeiten. Dass der Mensch im Verlauf seines Lebens ein paarmal geboren werden kann. Als ein ganz anderer, dem vorigen nicht im Geringsten ähnlich.

Nicht, dass ihm der ständige Rollenwechsel leicht fiele. Nicht, dass er bei aller Faszination für Afrika das in vielen Ländern wachsende Elend übersähe: Die Aufbruchstimmung von einst sucht Ryszard Kapuscinski mittlerweile in Staaten wie Sierra Leone, Sudan oder Eritrea vergeblich. „Als ich das erste Mal in Nigeria und Tansania war, waren die Städte dort voller Buchläden.“ Und heute? Kein Buchgeschäft, das diesen Namen verdiene, kein Verlag, nirgends, und die großen Intellektuellen mangels Perspektive längst nach Paris, London und New York ausgewandert. „Das“, sagt Ryszard Kapuscinski, „ist das Ergebnis von Militärregimen, das ist eines der Dramen dieses Kontinents.“

Die anderen Dramen – Krieg und Korruption, Armut und Aids – kennt er auch, nach 40 Jahren regelmäßiger Wiederkehr nach Afrika vermutlich besser als die meisten seiner Kollegen. Doch anders als vielen ist es Ryszard Kapuscinski gelungen, den Pessimismus über die Zukunft Afrikas, der auch ihn zuweilen befällt, nicht in Zynismus, Verzweiflung, Verachtung umschlagen zu lassen. Seine Reportagen sind geprägt von Mitgefühl, nicht von Mitleid. Sie beschreiben, ohne zu verurteilen, und nie geht, bei aller Ernsthaftigkeit, der Sinn für Humor verloren.

Die Wohnung, die ich in Lagos gemietet habe, wird ständig ausgeraubt … Anfangs packte mich schon Wut … Wenn man bestohlen wird, bedeutet das vor allem, dass man erniedrigt, betrogen wird. Doch hier überzeugte ich mich bald davon, dass es einen gewissen psychischen Luxus darstellt, einen Diebstahl bloß als Erniedrigung und Betrug anzusehen …, begriff ich, dass ein Diebstahl, sogar ein geringfügiger, ein Todesurteil bedeuten kann … In der kleinen Gasse lebte … eine allein stehende Frau, deren einziger Besitz ein Topf war. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt damit, dass sie von den Gemüsehändlerinnen Bohnen auf Kredit kaufte, diese kochte, mit Soße zubereitete und an die Leute verkaufte … Doch eines Nachts weckte uns ein durchdringender Schrei … Die Frau rannte verzweifelt und wie von Sinnen herum: Man hatte ihr den Topf gestohlen, und damit hatte sie das einzige Hilfsmittel verloren, von dem sie lebte.

Seine Helden aber werden niemals von ihrer literarischen Prominenz erfahren. Denn Ryszard Kapuscinski wäre vermutlich der Letzte, der sie hierüber aufklären würde. „Das wäre mir peinlich“, sagt er und wird allein bei dem Gedanken daran rot, dass er den Menschen, die er beobachtet hat, hinterher seine Reportagen vorlesen könnte.

Seine Lektorin blickt streng auf ihre Armbanduhr. Es warten weitere Termine. Ryszard Kapuscinski redet seelenruhig weiter.

Europäer und Afrikaner haben völlig unterschiedliche Zeitbegriffe … In der Überzeugung des Europäers existiert die Zeit außerhalb des Menschen, objektiv, gleichsam außerhalb unserer selbst, und besitzt eine messbare, lineare Qualität … Der Europäer sieht sich als Diener der Zeit, er ist von ihr abhängig, ihr untertan. Um existieren und funktionieren zu können, muss er ihre ehernen, unverrückbaren Gesetze, ihre starren Prinzipien und Regeln achten … Ganz anders sehen die Afrikaner die Zeit. Für sie ist die Zeit eine ziemlich lockere, elastische, subjektive Kategorie … Die Zeit ist sogar etwas, was der Mensch selbst schaffen kann, weil die Existenz der Zeit zum Beispiel in Ereignissen zum Ausdruck kommt, ob es aber zu diesem Ereignis kommt oder nicht, hängt schließlich vom Menschen ab … In Umsetzung auf praktische Situationen bedeutet das: Wenn wir in einem Dorf ankommen, wo am Nachmittag eine Versammlung stattfinden soll, aber am Versammlungsort niemanden antreffen, ist es sinnlos zu fragen: „Wann wird die Versammlung stattfinden?“ Die Antwort ist nämlich von vornherein bekannt: „Wenn sich die Menschen versammelt haben.“

Ebenso sinnlos ist es zu fragen, wie lange ein Gespräch mit Ryszard Kapuscinski dauern wird. Die Antwort ist: Bis er den Eindruck hat, genug gesagt zu haben. Bis ihm einfällt, dass er sich nun wieder gern seinen Gedanken widmen würde, seinen Notizen und Beobachtungen für ein neues Buch und ein weiteres und noch eines. Wozu man ihm alle Zeit der Welt wünschen möchte.

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