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Jenseits von Ehen

Uniklinik Eppendorf untersucht Beziehungen dreier Generationen im sozialen Wandel  ■ Von Marco Carini

Sie sind 1942, 1957 oder 1972 geboren? Fein, dann bekommen Sie möglicherweise bald Post von der Hamburger Uniklinik, genauer von Herrn Prof. Dr. Gunter Schmidt. Diesmal interessieren den prominenten Sexualforscher weniger die Details Ihres Liebeslebens, also wie oft sie mit wem wie lange welche Matratzenspiele (be)treiben. Die neue Studie, für die 600 HamburgerInnen im Alter von 30, 45 und 60 etwa ein bis anderthalb Stunden interviewt werden sollen, trägt den Titel „Beziehungsbiographien im sozialen Wandel“.

Die geplante Analyse baut dabei auf den bekannten Veränderungen in Partnerschaften während der vergangenen Jahrzehnte auf. So wird heute später und seltener geheiratet als früher, Liebes-Beziehungen sind kurzlebiger und brüchiger, die Scheidungsquote ist in die Höhe geschnellt. Zumindest in den Großstädten leben 20- bis 30-Jährige ihre Beziehungen überwiegend jenseits der Ehe.

Ein Drittel aller Jugendlichen wächst nicht mehr bei beiden Elternteilen auf; Patchworkfamilien mit neuen PartnerInnen treten immer mehr an die Stelle des klassischen Familienverbundes. Doch wie die Beteiligten die neuen Partnerschafts- und Familienmodelle empfinden, ob sie der klassischen Kleinfamilie hinterher trauern oder die neue Unübersichtlichkeit genießen, darüber ist, so Schmidt, „noch wenig bekannt“.

„Neue Lebensformen bringen neues Leiden und neue Chancen mit sich“, glaubt Schmidt. Dahinter steckt für den Wissenschaftler auch die Frage, ob „die Kleinfamilie, die erst seit historisch kurzen 150 Jahren die vorherrschende Lebensform ist“, ihren Zenit als Partnerschaftsmodell Nummer eins längst überschritten hat. Auch den Familienbegriff gelte es neu zu definieren: „Familie ist da, wo Kinder sind.“

Die 600 Befragten in Hamburg, zu denen sich noch 300 Interviewte aus Leipzig gesellen, sollen bis zu den Sommerferien studentischen Hilfskräften zu drei Themenkomplexen Auskunft geben. Ihrer heutigen Lebenssituation, ihrer Beziehungsgeschichte von der ersten großen Liebe bis zur Gegenwart und – soweit Realität – zum Leben mit Kindern nach einer Trennung der Eltern. Dabei erhoffen sich die ForscherInnen auch Aufschlüsse darüber, welche Bedeutung Sexualität und die Arbeitsteilung in Partnerschaften für die verschiedenen Beziehungsmuster haben. Ein Thema ist auch der Single – das unbekannte Wesen. Fühlt er sich in einer tristen Übergangsphase zwischen zwei Partnerschaften oder begreift er seine Ungebundenheit als anstrebenswertes Lebensmodell?

Erste Ergebnisse der umfangreichen Studie erwartet Schmidt im Herbst. Von den Resultaten erhofft sich der Sexualwissenschaftler auch einen „praktisch-professionellen Nutzen“ für seine KollegInnen in Psychologie und Psychotherapie. „Wenn heute eine junge Frau erzählt, sie lebe glücklich in ihrer vierten Beziehung, wird ihr schnell Bindungsunfähigkeit attestiert.“ Vielleicht aber seien solche Befunde allzusehr „alten Bildern verhaftet“, die längst überholt sind.

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