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Irina Liebmann zeigt die stille Mitte Berlins
: Leben, Verfall, Verwahrlosung

Ein Roman sollte es werden, Anfang der Achtzigerjahre. Über die Gegend zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz, über das alte Zentrum Berlins. Irina Liebmann dachte, wenn sie nur die Geschichte einer einzigen dieser Straßen recherchieren würde, könnte man einen Roman darüber schreiben, wie das alles gekommen ist, was das Leben in dieser Zeit ausmachte.

Liebmann hat inzwischen Romane über Berlin geschrieben und wurde mit Auszeichnungen dekoriert. Aber ihr Recherchematerial über das Scheunenviertel und die Hackeschen Höfe hat sie lange nicht verwendet. Jetzt wurden die alten Fotos, Gesprächsnotizen und Tagebucheinträge aus ihrem Dornröschenschlaf im Fundus der Autorin befreit und als „Recherche rund um den Hackeschen Markt“ veröffentlicht. Ein ungewöhnliches Projekt. Fotobücher gibt esüber Berlin im Überfluss, Ratgeber für Stadtrundgänge auch.

Liebmanns „Stille Mitte“ ist weder das eine noch das andere. Rund 50 Seiten Text sind fein säuberlich getrennt von 44 Fotos, die die Autorin in den Achtzigerjahren aufgenommen hat. Alle Querformat, schlampig belichtet oder vergilbt, in blassen Farben, ohne konsequent durchdachten Bildaufbau. Mittelmäßig. Dennoch – sie passen zu Liebmanns literarischem Recherchebericht. Die Bilder zeigen den Verfall des alten Zentrums, die Zerstörung, die Verwahrlosung. Wenige Autos, mal eine Tram. Die Schriftzüge über den Läden sind schlicht: „Restaurant“, „Gemüse – Konserven – Kartoffeln“, „Hand-Bügelei“. Oft sind einzelne Buchstaben nicht mehr lesbar. Menschen gehen über geflicktes Kopfsteinpflaster der Garten- oder Rosenthalerstraße, Trümmer von eingestürzten Häusern bedecken ganze Grundstücke. Von Cafés, Galerien, Neubauten und Neonreklamen, die heute die Straßenzüge des Viertels überziehen, ist nichts zu ahnen.

Der Verfall war Antrieb für Irina Liebmanns Recherche. Sie wusste: Vorher war es nett, sauber und gemütlich. Darüber hat sie vor rund 20 Jahren mit den damaligen Bewohnern der Großen Hamburger Straße gesprochen. Auch über die Mischung von praktizierten Religionen, Berufen und Lebensläufen. Die Geschichte, die ihr aus einzelnen Schriftzügen oder ganzen Gebäuden entgegenblickte, interessierte sie.

In ihrem Essay erzählt sie von 1849 bis heute, sehr subjektiv und lückenhaft. Quellen sind auftauchende und verschwindende Zeitschriften oder Einzelfälle wie der des Treibriemenfabrikanten Franz Pretzel. Sie verfolgt seine Ziele und sein Wirken in Bauakten, Protokollbüchern, Anzeigenschaltungen. Aus einem Skandal, einem Machtkampf um eine Postenbesetzung wagt sie allgemeine Schlüsse über den Kampf zwischen Links und Rechts, zwischen liberalen und antisemitischen Strömungen in der Gegend. Sie hat eine an Eindrücken reiche Dokumentation rund um den Hackeschen Markt zusammengestellt. Die beobachteten Kleinigkeiten, der Blick fürs Detail machen den Reiz von Liebmanns Fotobuch aus.

Der Titel „Stille Mitte von Berlin“ ist allerdings nur für die Bilder zutreffend, der Text beschäftigt sich vorrangig mit turbulenten Zeiten. Wenn Irina Liebmann ihren Hackeschen Markt in weltgeschichtliche Zusammenhänge einordnen will, wird sie ungenau und formelhaft. Warum recherchiert sie historische lokale Strukturen so detailgenau, schließt aber für die Gegenwart mit der Bemerkung, dass sich in der Gegend durch den weltweiten Krieg gegen den Terrorismus vielleicht wieder Angst ausbreitet? Was ist der Vergleichspunkt zwischen Ostberlin und New York nach dem 11. September? Ein Wermutstropfen in der sonst so detailverliebten, einfühlsamen Darstellung. SILKE LODE

Irina Liebmann: „Stille Mitte von Berlin. Eine Recherche rund um den Hackeschen Markt“. Nicolai, Berlin, 19,90 €