: Bauarbeiter mit optimistisch gerecktem Daumen
Arbeitsvermeidung
Wenn man heute in der Rykestraße in Prenzlauer Berg über die Stühle der Straßencafés stolpert, kann man sich kaum vorstellen, dass dies vor zwölf Jahren die verranzteste Meile Ostberlins war. Ein Fleischer, ein Konsum, und das war’s. Auf dem Hinterhof eines der verfallenden Gebäude hatte ich dort zu Wendezeiten in einer Filiale des DDR-Außenhandelsgiganten Technocommerz meinen ersten Bürojob. Als Finanzkontrolleur hatte ich nicht viel mehr zu tun, als die bereits von anderen vier Mal geprüften Belege abzustempeln und die Zahlen in den Computer einzugeben, der in einem Kämmerchen stand. Die Software des Robotron-Rechners war natürlich geklaut und als Ostprodukt getarnt. In dieses Kämmerchen verzog ich mich aber auch, wenn es nichts zu tun gab oder ein Nickerchen anstand.
Im ersten Arbeiterstaat auf deutschem Boden mussten wir 8,75 Stunden netto arbeiten im Gegensatz zur sozialdemokratisch verwalteten BRD, in der der Kommunistentraum vom 8-Stunden-Tag verwirklicht worden war. Das generelle DDR-Arbeiter-und-Angestellten-Problem bestand ja meist darin, diesen 8,75-Stunden-Tag über die Runden zu bringen, wenn sich die Arbeit auch in drei Stunden erledigen ließ. Und da man sich beim Zeitschinden nicht erwischen lassen durfte, war das Sich-vor-der-Arbeit-Drücken anstrengender als die eigentliche Arbeit. Doch Arbeit hatte einen schlechten Ruf im Osten, weshalb die Partei überall Plakate aufhängte, auf denen Bauarbeitermodels mit optimistisch gerecktem Daumen zu sehen waren. Dennoch handelte sich derjenige, dem es nicht gelang, sich vor der Arbeit zu drücken oder sie auf Lehrlinge und Hilfsarbeiter abzuwälzen, schnell den Ruf ein, nicht „blickig“ zu sein.
So wie ich. Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen, die während ihrer Arbeitszeit ungeniert einen Pullover nach dem anderen strickten. Ich hingegen wurde schon nervös, wenn ich mal heimlich einen Joghurt aß. In solchen Situationen oder wenn die Gespräche der Kolleginnen sich um Fragen der Kinderaufzucht drehten, verzog ich mich ins Computerkämmerchen, um zu programmieren. In Wirklichkeit tippte ich die Texte der Pogues-Platten-Cover ab, die mir ein Freund geliehen hatte. Manchmal versuchte ich auch, den Kopf in die Hände gestützt, zu schlafen. Falls der Chef den Raum betrat, sollte es so aussehen, als ob ich konzentriert auf den Bildschirm starrte. Aber meistens wachte ich schnell wieder durch das Piepen auf, das der Computer von sich gab, wenn der Cursor das Ende der Zeile erreicht hatte, weil mein Kopf auf der Tastatur gelandet war. Zum Spaß schrieb ich schließlich Computerprogramme, welche die knappe Arbeit meiner Kolleginnen noch mehr reduzierte. Sie waren mir dennoch dankbar. Ahnten sie, dass die Tage der DDR gezählt waren? Pünktlich zur Währungsunion trudelte die erste von insgesamt 750 Entlassungen beim Außenhandelsbetrieb Technocommerz ein. 1999 rackerten sich noch ganze fünf Mitarbeiter damit ab, die ausstehenden Schulden der Russen und Nicaraguaner einzutreiben. Als dann der letzte Dollar bezahlt war, schlossen sie die Tür ab, und Technocommerz war nicht mehr. Der Name steht also wieder zur Verfügung, vielleicht hat Dr. Motte Interesse. Ich war meiner Entlassung zuvorgekommen und hatte zu studieren begonnen.
Es dauerte dann fast zehn Jahre, bis ich wieder einen Büroschreibtisch von vorn zu sehen bekam. Diesmal in einem Anti-Drogen-Verein, wodurch ich mir bei Freunden den Ruf einhandelte, Exjunkie zu sein. Und kaum saß ich am Computer, setzte der alte Arbeitsverweigerungsreflex ein. Dabei machte die Arbeit sogar Spaß, es gab nur nicht genug, um die Zeit totzuschlagen. Diesmal wurde der Müßiggang von der katholischen Kirche subventioniert. Als wir dann einen Internetzugang bekamen, gab es kein Halten mehr. Ich kannte mich mit Spam noch nicht so gut aus. Deshalb leistete ich der Aufforderung eines unbekannten Absenders bedenkenlos Folge, die Seite http://983274981.htm zu öffnen, woraufhin sich natürlich diverse Fensterchen mit unbekleideten Damen entblätterten. Die meisten hatten Penisse im Mund. Und die Domain bestand nicht mehr aus Zahlen, sondern trug den eindeutigeren Titel www.tittenkeller.de. Ich geriet in Panik. Um nicht als Pornosurfer geoutet zu werden, entfernte ich sämtliche Dateien mir unbekannten Formats, die auf meinem Computer an jenem Tag zu dieser Zeit gespeichert worden waren, darunter dummerweise auch die Systemdatei. Für die Reparatur verlangte der Computerexperte 800 Mark.
Meinen letzten Job hatte ich in einem Institut, welches Osteuropäerinnen in Sachen Feminismus auf die Sprünge helfen sollte. Ich hätte mir darüber im Klaren sein müssen, dass, wenn man aus Neugierde prüft, ob die britische Mädchenzeitschrift 19 eine Webseite hat, sich unter www.19.com durchaus auch „wollüstige Teenies aus deiner Umgebung“ auf dem Bildschirm tummeln können, was für Kolleginnen eines feministisch inspirierten Instituts befremdend wirken könnte. Ich kam meiner Entlassung zuvor und lebe jetzt von Licht und Luft. DAN RICHTER
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