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Gratwanderung zur Demokratie

Viele Provinzversammlungen in Afghanistan beraten, wer zur Ratsversammlung im Juni delegiert werden soll – der nächste Schritt zur Staatsbildung

aus Dschalalabad SVEN HANSEN

Im Garten des Amtes für Stammesangelegenheiten der Provinzhauptstadt Dschalalabad östlich von Kabul sitzen 220 ältere Männer in der Sonne. Alle haben einen Vollbart und tragen einen Turban, eine Filzmütze oder eine weiße muslimische Kappe. Die Versammlung, der keine einzige Frau angehört, ist die Schura – die regionale Stammesversammlung – der Grenzprovinz Nangarhar. Die hier überwiegend paschtunische Schura trifft sich mit vier Abgesandten der unabhängigen Loja-Dschirga-Kommission aus Kabul.

Die von der UNO einberufene Kommission aus 18 Männern und drei Frauen bereitet für Juni eine außerordentliche Loja Dschirga vor. Ausgehend von der traditionellen patriarchalischen Stammesgesellschaft soll diese Versammlung der erste Schritt in Richtung Demokratie im Afghanistan der Nachkriegszeit sein (siehe Kasten). Um für die außerordentliche Loja Dschirga zu werben und um die regionalen Schuras anzuhören, bereist die Kommission die 32 Provinzen des Landes.

„Schickt die, denen ihr vertraut“

Eingerahmt zwischen schwarz-rot-grüner Nationalflagge und blauer UNO-Fahne spricht das Kommissionsmitglied Zaher Khan Jabbarkhel, selbst ein alter Mann mit weißem Bart und Filzmütze, zur Schura von Nangarhar: „Die Aufgabe unserer Kommission ist es nicht, die Mitglieder der Loja Dschirga zu bestimmen, sondern unparteiische und objektive Kriterien für die Auswahl der Delegierten zu definieren. Es ist dann euer Recht, diejenigen zu schicken, denen ihr vertraut.“ Jabbarkhel leitete einst ein Flüchtlingslager in der Nähe der pakistanischen Stadt Peschawar und stammt selbst aus Nangarhar. Für allgemeine Wahlen sei es noch zu früh, sagt er, schließlich müssten sich die Afghanen überhaupt erst einigen und könnten sich nicht schon wieder parteipolitisch streiten.

Dann spricht Humaira Nematy. Sie ist eine der drei Frauen in der Loja-Dschirga-Kommission. Die von den Taliban geschasste Juradozentin aus Masar-i Scharif appelliert an die alten Männer, auch Frauen zu berücksichtigen. Die Kommission will Frauen in bisher „nie dagewesenem Ausmaß“ – so der Kommissionsvorsitzende Ismael Qasimyar – an der Loja Dschirga beteiligen. Darunter verstehen von der taz befragte Kommissionsmitglieder zwischen 100 und 250 Frauen bei einer etwa eintausendköpfigen Versammlung. Die genaue Zahl der Delegierten und die Kriterien zu ihrer Auswahl will die Kommisson Ende März festlegen. Neben Delegierten aus jedem der 330 Distrikte des Landes wird es auch Vertreter und Vertreterinnen gesellschaftlicher Gruppen geben. Dazu werden neben Frauen auch Flüchtlinge, Nomaden und Künstler gezählt.

Die aus dem Nordwesten stammende Nematy spricht als einzige Dari statt Paschto und das sehr defensiv. „Wir dürfen die Opfer der Frauen im Dschihad nicht vergessen“, sagt sie, womit der Guerillakampf gegen die sowjetischen Besatzer in den 80er-Jahren gemeint ist. Sie richtet den Ehefrauen ihre Grüße aus und fordert ansonsten die Männer auf, Vorschläge für die Beteiligung von Frauen zu machen. Kaum einer geht direkt auf Nematy ein. Man versucht sie freundlich zu ignorieren, ansonsten überwiegen diplomatische und patriotische Töne. Ein Turbanträger sagt: „Wir unterstützen die Loja Dschirga. Wer sie nicht unterstützt, versteht unsere Kultur nicht.“ Ein Stammesführer betont: „Immer wenn wir Afghanen Probleme hatten, haben wir sie per Loja Dschirga gelöst.“ Er ruft zur nationalen Einheit auf und fordert eine Regierung von Technokraten. Mehrere Redner sprechen sich für den paschtunischen Interimsregierungschef Hamid Karsai aus und bekunden ihre Unterstützung für dessen Stadtentwicklungsminister Abdul Qadir. Der ist zugleich Gouverneur von Nangarhar und einer von drei Warlords in der Provinz. Qadir ist auch der Bruder des von den Taliban im Oktober hingerichteten Paschtunenführers Abdul Haq. Dessen Porträt hängt in Dschalalabad überall.

Deutlich wird bei dieser Schura nur der mit einem Armeeparka gekleidete Stammesführer Gholam Nabi. Er fordert, Delegierte nur nach Qualifikation auszuwählen. „Wenn mein Sohn schlecht ist, sollten wir ihn nicht wählen“, sagt er. Dann merkt er unter Beifall kritisch an: „Die Kommandeure sollen die Bevölkerung nicht ausrauben, sondern in Ruhe lassen.“

Damit spielt er auf ein Problem der Kommission an. Denn fasst diese die Kriterien für die Delegierten zu idealistisch, könnte sie die Warlords verprellen mit der Gefahr, dass diese die Loja Dschirga nicht anerkennen und wieder zur Gewalt zurückkehren. Dominieren hingegen Kriegsverbrecher die Versammlung, wird sie diskreditiert. Stattdessen muss die Kommission versuchen, die Warlords in die Loja Dschirga einzubinden, ohne ihnen zu viel Macht einzuräumen – eine heikle Gratwanderung.

Bei der Zusammenstellung der Kommission hat die UNO vor allem auf unabhängige Fachleute statt auf Vertreter von Fraktionen gesetzt. Die Einberufung der Loja Dschirga dürfte jedoch immer noch leichter sein als die spätere Regierungsbildung in der Loja Dschirga. Schon bei der Bonner Afghanistan-Konferenz gelang die Bildung der Übergangsregierung nur durch großen Druck des Auslands. Der ist in Kabul aber geringer, zugleich ist hier die Zahl der Delegierten höher und der Druck einzelner Interessengruppen stärker.

Frauen? „Wenn sie gebildet sind“

Am nächsten Tag in Mehtarlam, dem Verwaltungssitz der Nachbarprovinz Laghman, sind die Töne gegenüber der Loja-Dschirga-Kommission weniger diplomatisch. Wieder sitzen nur Bärtige in der Schura. Es reden nur Offizielle, die an die „Märtyrer“ erinnern und mehr Mudschaheddin in der Regierung sehen wollen. Ob sie die Aufforderung befolgen, nur Leute zu schicken, die niemanden getötet haben, scheint fraglich. Doch auch sie äußern den Wunsch nach Frieden und stimmen der Beteiligung von Frauen an der Loja Dschirga zu, „sofern sie gebildet sind“, wie ein Redner einschränkt.

„Wir haben in der Loja-Dschirga-Kommission beschlossen, uns nicht öffentlich gegen afghanische Traditionen auszusprechen“, sagt die Juristin Nematy im Anschluss. „Wir wollen nicht die Fehler von König Amanullah aus den 20er-Jahren und der afghanischen Kommunisten Ende der 70er-Jahre wiederholen und Reformen übers Knie brechen. Das provoziert nur Widerstand und führt zu schweren Rückschlägen.“

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