berliner szenen: Smart im Weg
Abfahrt des Idioten
An diesem Abend hatte ich mehr Getränke zu mir genommen, als mein Gehirn und mein Portemonnaie vertragen können. Also wankte ich beschwingt zuerst die Alte, dann die Neue Schönhauser runter auf der Suche nach einem Nachtbus. Irgendwann stößt die Straße auf die Rosenthaler. Von der Rosenthaler biegt die Tram 1 ab, und das wollte sie auch diese Nacht, aber es versperrte ein Smart den Weg.
Das ist der Moment, an dem ich die Szene betrete. Ich schaue die Tramfahrerin an, die mit den Schultern zuckt und auf den Smart zeigt, neben dem ich zum Stehen gekommen bin. Also beuge ich mich runter, passe auf, dass der Alkohol in meinem Kopf mich nicht gänzlich gen Boden zieht, und schaue in besagtes Auto. Was muss ich sehen? Eine rundes Unternehmergesicht, das äußerst gespannt in einen Stadtplan schielt und das nun wirklich durchdringende Geklingel der Tram ignoriert. Ich klopfe an die Scheibe. In Zeitlupe dreht sich der auf einen Stiernacken geschraubte Kopf zu mir.
Zum ersten Mal in meinem Leben blicke ich ins Nichts. Es befindet sich in den Augen des Fahrers. Hätte sein Schädel nicht am Hinterkopf eine Knochenbegrenzung, ich hätte sicherlich durch seine Augen aus dem Fenster auf der Fahrerseite wieder hinausschauen können. Ich deute mit dem Daumen auf die Tram, die hinter ihm wartet. Langsam dreht er den Kopf, und die letzten beiden intakten Relais in seinem Denkapparat beginnen zu arbeiten. Mit unsicherer Bewegung schmeißt er den Stadtplan auf den Beifahrersitz und schiebt den ersten Gang rein. Abfahrt des Idioten. Die Fahrerin lächelt mich an und fährt auch. Ich suche meinen Nachtbus. Gut gelaunt. Ich war nicht der Dümmste in dieser Nacht.
WERNER LABISCH
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