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Teufelsbraten an Testosteron

Ein Studie belegt, dass Schachspieler gelegentlich zu hormondurchfluteten Paranoikern mutieren. Auffälligster Patient ist Garri Kasparow. Er gewinnt das „Wimbledon der Denkstrategen“ in Linares

„Krieg auf 64 Feldern mit kleinen Kampfeinheiten“

von HARTMUT METZ

Vor der segensreichen Erfindung der Schachuhr zermürbte mancher Spieler im 19. Jahrhundert seinen Gegner durch stundenlanges Sinnieren über einen einzigen Zug. Bei solch einem Duell notierte ein Schiedsrichter einst sogar einmal: „Beide Spieler schlafen.“ Noch heute erinnern regungslos verharrende Schachspieler den Betrachter an plastische Stillleben. Das krasse Gegenteil ist der Fall, wie eine vor kurzem veröffentlichte Studie der Seattle Pacific University ergab. Jeff Joireman stellte bei der Untersuchung von über 100 Schachspielern fest: Es handelt sich bei ihnen um wahre Teufelsbraten auf der steten Suche nach dem ultimativen Adrenalinkick. Nur eben sehr subtil.

Der Sozialpsychologe konstatierte, Schach ziehe dabei besonders dem Nervenkitzel verfallene Abenteurer an. Bei einem besonders engen Match schüttet der Körper eines äußerlich ruhigen Grüblers so viel Testosteron aus wie ein Extremkletterer oder Fallschirmspringer. Schach sei weniger ein Spiel als vielmehr „Krieg auf 64 Feldern mit Figuren, die kleinen Kampfeinheiten entsprechen“. Der Sieger verspüre Gefühle von Triumph und Dominanz, heißt es im Journal of Personality and Individual Differences.

Um dem auf den Grund zu gehen, unterzogen die Psychologen Schachspieler und Laien einem weiteren Test. Bezüglich der Sucht, am Rand des Abgrunds zu wandeln, verbuchten erneut die Schachspieler die meisten Zähler, womit die Forscher ihr erstes Ergebnis bestätigt sahen. Ergänzend stellte Joireman fest: „Regelmäßige Turnierspieler punkten in den Bereichen unkonventionelles Denken und Paranoia am höchsten – beides gilt auch für Personen, die permanent den Nervenkitzel suchen.“

Besonders exaltierte Großmeister der Spezies tummelten sich in den vergangenen zwei Wochen in Linares. Ein spanisches Kaff zum Einschlafen – wenn nicht gerade Schach auf höchstem Niveau gespielt wird. Im Wimbledon der Denkstrategen feierte Garri Kasparow seinen achten Turniersieg. Nach einigen Tobsuchtsanfällen, weil ihm die Gegner reihenweise ins Remis entschlüpften, sprudelte am Ende doch noch das Testosteron massenweise in die Adern des Weltranglistenersten. Die Hormone werden den 37-Jährigen besonders nach seinem Sieg in der vorletzten Runde beglückt haben.

Kasparow, das „Ungeheuer von Baku“ geheißen, hatte Ruslan Ponomarjow im Zaum gehalten, der sich zuvor zweifacher Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatte: Zum einen ließ er den zur Analyse bereiten Kasparow nach dem Remis in der ersten Partie wortlos stehen. Dies war als Retourkutsche für den Spott angelegt, den Kasparow nach dem WM-Gewinn des 18-jährigen Ukrainers via eigener Internet-Seite verbreitet hatte. Zum anderen lag Ponomarjow bis zum zweiten Duell mit Kasparow gleichauf.

Auch wenn der Exweltmeister seine Dominanz mit acht Punkten aus zwölf Partien unterstrich, darf der Champion des Weltverbandes Fide (Endergebnis: 6,5 Punkte) Platz zwei als großen Erfolg verbuchen. Sein neuer Intimfeind hatte vorher gehöhnt, Ponomarjow werde beim ersten Turnier im Kreis der Arrivierten das Fell über die Ohren gezogen.

Einen halben Zähler weniger als der junge Stoiker, der ziemlich selten lacht, sammelten der Inder Viswanathan Anand, Wassili Iwantschuk aus der Ukraine und der Engländer Michael Adams. Äußerst missmutig machte der Wettbewerb Alexej Schirow, dem Niederlagen ähnlich aufs Gemüt schlagen wie Iwantschuk. Mit nur 4,5 Punkten wurde er Letzter, noch hinter seinem spanischen Landsmann Francisco Vallejo Pons (5), ein ansprechendes Debüt des Weltranglisten-Sechzigsten. Er war schließlich der einzige Teilnehmer außerhalb der Top Ten.

Dem früheren Jugend-Weltmeister Pons unterlief gegen Iwantschuk der schlimmste Patzer seiner Karriere, ein Fehler, der in Sekundenschnelle bestraft wurde. Vallejo Pons fühlte dabei, „wie mein ganzer Körper mit Adrenalin durchflutet wurde und ich den Drang verspürte, gewalttätig zu werden“. Der 19-Jährige bestellte jedoch ein Wasser, leerte es langsam, bis er nach zehn Minuten die Hand seines Kontrahenten zur Gratulation schüttelte und wortlos auf sein Zimmer entfloh.

Dort schaltete Pons vom königlichen Spiel auf „König Fußball“ um: Im Fernsehen lief das Pokal-Endspiel zwischen seinem Lieblingsklub Real Madrid und Deportivo La Coruña. „Die Königlichen“ verloren das Finale zu ihrem 100. Geburtstag mit 1:2. Danach flutete kein Tropfen Adrenalin mehr durch den Kreislauf von Pons, einer dieser paranoiden Abenteurer mit der gnadenloser Körperbeherrschung.

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