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Mit Wucht gen Westen

Der Islamlismus ist im Niedergang begriffen, meint der französische Soziologe Gilles Kepel. In seinem „Schwarzbuch des Dschihad“ argumentiert er ebenso brilliant wie provokativ gegen den seit dem 11. September gängigen Diskurs an

Der moralische Kredit der islamistischen Bewegung hat keine 30 Jahre vorgehalten

von ANDREAS UFEN

Die Kernthese von Gilles Kepel dürfte viele überraschen. Der französische Soziologe und Islamexperte behauptet nämlich in seinem neuen Buch, dass der Islamismus seinen Zenit bereits überschritten habe, ja schon seit 1989 im Niedergang begriffen sei. Sein Werk ist in Frankreich schon im Jahr 2000 erschienen, also lange vor den Terroranschlägen vom 11. September vergangenen Jahres. Ist seine These also überholt? Kepel bestreitet das in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe entschieden. Im Gegenteil: Er sieht sich sogar bestätigt, weil gerade die „apokalyptische Provokation“ ein Zeichen der Schwäche sei, ein letzter Versuch, den Niedergang aufzuhalten.

Für Kepel beginnt die islamistische Epoche erst kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg von 1973. Bis dahin ist auch in den meisten islamischen Ländern der Nationalismus die tonangebende Ideologie gewesen. Erst nach der traumatischen Niederlage und der damit einhergehenden Stärkung der Erdöl exportierenden Staaten fasst der Islamismus in den muslimisch geprägten Gesellschaften Fuß. Er gilt vielen als utopische Lehre, gerichtet gegen den korrupten, abgewirtschafteten, despotischen Staat.

Unterstützt werden die islamistischen Propagandisten, meist junge Intellektuelle, die zum größten Teil naturwissenschaftliche und technische Fächer studiert haben, von der mittellosen städtischen Jugend, die das Produkt der Bevölkerungsexplosion und der massiven Landflucht in der Dritten Welt ist. Aber auch Teile des Bürgertums und der „frommen Mittelschicht“ schließen sich an, da sie nach der Entkolonialisierung von den neuen Eliten ausgegrenzt wurden.

Kepel unterscheidet drei Phasen in der Geschichte des Islamismus. In der ersten, der Umschwungphase, die mit der islamischen Revolution im Iran im Jahre 1979 endet, werden fundamentalistische Bewegungen durch den sich ausbreitenden saudi-arabischen, wahhabitischen Islam indirekt und ungewollt gefördert. Eigentlich soll mit Hilfe saudi-arabischer Ölgelder eine weltumspannende ideelle Gemeinschaft der Muslime begründet und der besiegte Nationalismus durch einen konservativ interpretierten Islam ersetzt werden.

Die zweite Phase ist eine der rasanten Expansion, aber auch der Verschärfung der inneren Widersprüche dieser Bewegung. Der Islamismus wird zum Hauptbezugspunkt der Debatten in den muslimischen Ländern. Die islamische Revolution ist ein Weckruf für viele Regierungen, die eine umfassende Islamisierungspolitik starten und dabei die Ulema (Islamgelehrten) gegenüber den säkularen Intellektuellen aufwerten. International entwickelt sich ein Dualismus zwischen dem Iran, der die Revolution zu exportieren sucht, und Saudi-Arabien, das die schiitische Eigenart der Mullah-Herrschaft im Iran herausstellt und im Krieg den Irak unterstützt.

1989 ist die islamistische Bewegung auf ihrem Höhepunkt. Die Hamas drängt die PLO aus ihrer Vormachtstellung, die FIS gewinnt die Wahlen in Algerien, im Sudan putscht Hassan Turabi und in Afghanistan tritt die Rote Armee den Rückzug an. Mit dem Untergang des osteuropäischen Sozialismus dehnt sich die islamische Zivilisation bis nach Zentralasien aus. Für Kepel zeigt sich aber bereits der Beginn des Niederganges. Das Bündnis zwischen armer städtischer Jugend und frommer Mittelschicht wird in vielen Ländern unter dem Druck der staatlichen Repressions- und Kooptierungspolitik zerrieben.

Etwa mit dem Ende des Kalten Krieges beginnt die dritte Phase, die Zeit des Niederganges. Sie wird durch die irakische Besetzung Kuwaits im August 1990 ausgelöst. Die daraus folgende erzwungene Stationierung „ungläubiger“ Truppenverbände zerstört den Anspruch des saudischen Herrscherhauses, Hüter der heiligsten Stätten des Islam zu sein. Der Irak agitiert gegen die proamerikanischen Saudis, es kommt zur Spaltung des islamistischen Lagers. Auch auf saudi-arabischem Boden entwickelt sich ein oppositioneller Islamismus gegen das saudische Regime. Die „Dschihadisten“ spalten sich ab, gehen seit dem April 1992, nachdem Kabul in die Hände von Mudschaheddin-Gruppen gefallen war, nach Afghanistan. Später zerstreuen sie sich nach Bosnien, Algerien und Ägypten. Während sich dieser „afghanische Dschihad“ radikalisiert und zu einer terroristischen Bewegung transformiert, zerfallen islamistische Bewegungen in anderen Ländern. Kepel schreibt über den allgemeinen Niedergang des Islamismus: „Der moralische Kredit, den eine Bewegung genoss, die mit den korrupten und gewalttätigen politischen Sitten brechen wollte, hat keine dreißig Jahre vorgehalten. In dieser Zeit folgten nacheinander: Knüppeleinsatz gegen Linke an den Universitäten, Kopftuchzwang, der Schwindel ‚islamischer‘ Geldanlagen, die Zensur laizistischer Schriften und der Terror gegen ihre Verfasser, die Massaker an Zivilisten und Touristen.“

Aus diesem Niedergang haben „die hellsten Köpfe unter den Islamisten“ – so Kepel – bereits ihre Lehre gezogen. Sie orientieren sich neu, berufen sich auf Demokratie und Menschenrechte und bemühen sich um eine Verständigung mit den säkularisierten Teilen der Mittelschicht. Am besten lässt sich dies im Augenblick im postislamistischen Iran beobachten. Der Ausgang dieses Reformprozesses ist offen: Die islamische Welt wird „… zweifellos geradewegs in die Moderne eintreten und dabei mit einer unerhörten Wucht mit der westlichen Welt verschmelzen – insbesondere durch die Emigrationsbewegungen und ihre Folgen sowie durch die Revolution der Kommunikations- und Informationstechnologie.“

Zwar hat das Buch ein paar Schwächen: Kepel verzichtet auf eine Definition der Grundbegriffe, und die soziale Basis der islamistischen Bewegung ist zu undifferenziert benannt. Trotzdem besticht das Werk durch seine Detailfülle und durch die insgesamt beeindruckende Aufarbeitung einer außergewöhnlich heterogenen und wandelbaren Bewegung. Nach der Lektüre wird man die Geschehnisse in den muslimischen Ländern seit Anfang der 70er-Jahre mit anderen Augen sehen.

Gilles Kepel: „Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus“, 532 Seiten, Piper Verlag, München 2002, 29,90 €

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