piwik no script img

Per Giftspritze gegen die Unterwelt

China leidet unter einem drastischen Anstieg von Korruption und Gewaltverbrechen der Unterwelt. Die Regierung weiß um den systemgefährenden Charakter der Kriminalität und versucht mit drastischen Maßnahmen gegenzusteuern

aus Peking JUTTA LIETSCH

Kaum ein Thema erhitzt die Chinesen so sehr wie die allgegenwärtige Korruption und das Gefühl der Rechtlosigkeit. Auch die offizielle Presse befasst sich mit dem Thema. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die Zeitungen nicht über neue Fälle berichten, in denen lokale Parteikader sich auf Kosten der Bevölkerung bereichern. Oft werden diese Fälle allerdings erst publik, wenn die Opfer zur Waffe greifen, wie der Minenbesitzer Hu Wenhai in der Provinz Shanxi. Der hatte sich jahrelang vergeblich über korrupte Machenschaften des lokalen Parteichefs beschwert – bis er schließlich Amok lief und 14 Menschen tötete.

So ist es kein Wunder, dass Korruption und Rechtsunsicherheit auch den Nationalen Volkskongress beschäftigen, der noch bis zum Freitag in Peking tagt. Nachdem Regierungschef Zhu Rongji gleich zu Anfang des Treffens jenen Funktionären den Kampf angesagt hatte, die „öffentliche Mittel mit Banketten, extravaganten Vergnügungen und privaten Auslandsreisen“ verprassten, erklärten gestern Chinas oberste Juristen dem Volk, dass ihre Arbeit für eine „saubere Regierung“ im Jahr 2001 „Früchte getragen“ habe.

Laut Generalstaatsanwalt Han Zhubin und des Präsidenten des Obersten Gerichshofes, Xiao Yang, ermittelten die Behörden im Jahr 2001 gegen 40.195 Personen in 36.447 Korruptionsfällen. Dabei ging es um 4,1 Milliarden Yuan (über 500 Millionen Euro). Über 20.000 Menschen wanderten ins Gefängnis oder wurden zum Tode verurteilt, weil sie Schmiergelder angenommen oder in öffentliche Kassen gegriffen hatten.

Während Zivilstreitigkeiten das Gros der fast sechs Millionen Gerichtsfälle des vergangenen Jahres stellten, stieg die Zahl der Kriminalfälle um fast ein Drittel auf zwölf Prozent an. Chefrichter Xiao beklagte vor allem den dramatischen Anstieg der Gewaltverbrechen. 12.005 Kriminelle, die Schusswaffen oder Sprengstoff eingesetzt hätten, seien 2001 verurteilt worden – über 80 Prozent mehr als 2000. Besonders Besorgnis erregend sei die Zunahme der organisierten Kriminalität mit „Unterweltcharakter“, warnten die Juristen. Der Vizepräsident des Obersten Gerichtshofes, Liu Jiachen, hatte bereits zuvor berichtet, dass allein zwischen April und Dezember 2001 über 12.000 „schwarze Hände“ verhaftet wurden. Viele von ihnen gehörten zu Banden, die den Schutz lokaler Funktionäre und Behörden genießen.

Die Juristen erklärten allerdings nicht, warum in der Regierung und Partei (die sich als oberste moralische Instanz Chinas versteht) so viele Ganoven sitzen. Mit den Besorgnis erregenden Kriminalstatistiken versucht die Führung den Eindruck zu erwecken, dass sie das Problem in den Griff bekommen kann. Die Spitzenfunktionäre wissen: Gelingt ihnen nicht, die Korruption einzudämmen, verspielen sie den ohnehin angeschlagenen Ruf der Partei.

Um zu zeigen, dass die Staatsanwaltschaft den Kampf gegen korrupte Kader ernst meint, hat sie kürzlich zusammen mit dem Fernsehen eine neue Serie erarbeitet, die seit Anfang März täglich gesendet wird: À la „Aktenzeichen XY ungelöst“ werden flüchtige Funktionäre gezeigt, die mindestens eine Million Yuan (rund 140.000 Euro) veruntreut haben. Die Bevölkerung soll sich an der Jagd beteiligen.

Ein Grund für die dramatisch gestiegene Zahl von Urteilen: Im vergangenen April begann die Regierung mit der neuen Kampagne „Hart zuschlagen“. Polizei und Gerichte wurden angewiesen, keine Milde zu zeigen. So wurden seitdem mehr als 150.000 Verbrecher zu Haftstrafen ab fünf Jahren bis lebenslänglich verurteilt, viele auch zum Tode.

Die genaue Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen hielt die Justiz wie schon in den Jahren zuvor geheim. Die Regierung betrachtet diese Information als Staatsgeheimnis. Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international zufolge hat China in den letzten Jahren mehr Menschen exekutiert als der Rest der Welt zusammen. Dabei werden die Verurteilten traditionell mit einer Kugel in den Hinterkopf getötet. In einigen Provinzen ist man inzwischen dazu übergegangen, mit der Giftspritze hinzurichten. Künftig solle diese Methode häufiger angewendet werden, kündigte der Vizepräsident des Obersten Gerichtshofes, Liu, gestern an. Dies sei eine „zivilisierte Art der Durchsetzung des Gesetzes“. China habe diese Hinrichtungsmethode „nach erfolgreichen Experimenten an Tieren eingeführt“. Die „verurteilten Verbrecher und ihre Verwandten“ hätten „auf die tödliche Injektion positiv reagiert“, so Liu.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen