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Im Stil eines CDU-Ortsverbands

Die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg wählen Christian Ströbele zum Direktkandidaten für den Bundestag. Diskussionen zum Wahlkampf schenken sie sich. Denn die Kneipe ruft

Kandidat vorgestellt, fünf Wortmeldungen, Wahl, so beschlossen, Diskussion fällt zugunsten der Kneipe weg. Ein typischer Parteiabend. Doch der Kandidat heißt Christian Ströbele, die Partei sind die Urgrünen aus Kreuzberg mit Friedrichshainer Anhang. Und zur Diskussion hatte die Wahlkampfstrategie gestanden, die das erste grüne Direktmandat sichern soll.

Nüchternheit prägt diesen Dienstagabend im Haus der Demokratie, an der Grenze zwischen Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Vielleicht ist der Saal zu hell und zu aufgeräumt für Diskussionen wie in nikotinschwangeren Hinterzimmern, vielleicht sind Brainstormings über Strategien und Themen nicht mehr in. In kaum eineinhalb Stunden, im Stil eines CDU-Ortsverbands alter Prägung, machen die Grünen Ströbele zum Direktkandidaten für den Bundestag. „Die Grünen“ heißt genau genommen: 60 von fast 600 eingeladenen Parteimitgliedern aus dem Wahlkreis 84, dem auch der Osten von Prenzlauer Berg angehört. Gerade mal jeder und jede Zehnte also.

Ströbele hält sich am Rednerpult kurz. Er macht sich nicht die Mühe, seine Bewerbungsrede vom Januar noch mal zu halten. Die hat er damals an seine Parteifreunde verschickt, bevor ihn die stadtweite Mitgliederversammlung der Partei durchfallen ließ. Nicht Ströbele, sondern sein Bundestagskollege Werner Schulz landete auf der Landesliste auf dem sicheren zweiten Platz hinter Verbraucherschutzministerin Renate Künast.

In dieser Rede werden seine Parteifreunde zu Hause nachlesen können – nachdem sie ihn gewählt haben. Aber er muss ja sowieso keinen mehr überzeugen, eher erklären, warum er mit der Kandidatur bis Anfang März gezögert hat. Sie wollten ihn ja, hat er in vielen Gesprächen gehört, die er in den zurückliegenden Wochen geführt hat.

Jetzt ist er der Kandidat, und deshalb sind an diesem Abend auch Leute dabei, die nach dem Januar-Debakel von Wahlkampfboykott sprachen. Heidi Kosche etwa, die damals keine Möglichkeit sah, für Werner Schulz auf die Straße zu gehen und jetzt Stimmen mit auszählt.

Bunte Comicfiguren

Was sie und die anderen im Saal jetzt von Ströbele hören, ist nichts Neues. Er entwirft keine Zukunftsvisionen, er debattiert nicht über grüne Politik. Nüchtern berichtet er von seiner Arbeit im Parteispendenausschuss und in der Kontrolle der Geheimdienste. Die SPD-Parteispendenaffäre mag er immer noch nicht recht begreifen: „Für mich war das bis vor einer Woche nicht vorstellbar.“ Vom Osten spricht er, der für den Wahlkampf so entscheidend sei. Er will die Wähler zurückholen, die die Grünen als Bündnis 90 hier nach der Wende hatten. Sozial gerechte Politik wollten die, und die will er ihnen geben.

Hinter Ströbele hängt ein frisches Wahlkampfplakat des Landesverbands im Comicstil. Viele bunte Menschen sind darauf mit vielen Ideen. Es ist nicht das Bild des Abends.

Vier, fünf Fragen gibt es im Saal zu seiner Kandidatur, keine Gegenreden, keine Ergänzungen, nichts, was an eine Debatte erinnert. Einer ist enttäuscht, von Ströbele – der jetzt schon in vier Bundestagsausschüssen sitzt – nicht auch noch etwas zur Agrarwende zu hören und zur Familienpolitik. Özcan Mutlu, Grünen-Mann im Abgeordnetenhaus, passt die Linie zum Zuwanderungsgesetz nicht, ein anderer will Ströbele das Berufsbeamtentum schleifen lassen.

Auf 48 von 49 Wahlzetteln steht eine Viertelstunde später „Ja“, eine Enthaltung gibt es. Eine bei den Grünen übliche Vorabstimmung inklusive jener, die im Wahlkreis nicht stimmberechtigt sind, ergibt eine Gegenstimme. Ströbele bedankt sich mit der Ankündigung, für das bundesweit erste grüne Direktmandat zu kämpfen. Die Landesspitze mit Regina Michalik und Till Heyer-Stuffer gratuliert und verbreitet noch am Abend ihre Einschätzung, dass Ströbele tatsächlich eine Siegchance hat.

Eigentlich sollen sie im Saal nun darüber sprechen, wie sie ihren Wahlkampf führen, wie sie Ströbele in den Bundestag bringen wollen. Das steht so auf der Tagesordnung als Punkt 2. Aber ach, die Prenzlberger Kneipen sind so nah und die örtlichen Parteifreunde so nett, gleich am Mikrofon eine paar Etablissements zu empfehlen. Es gebe da doch noch etwas zu besprechen, hebt die Versammlungsleitung noch vorsichtig an. Doch da sind die Schals gebunden, die Jacken schon angezogen. Wahlkampfführung? Vorne am Podium kapitulieren sie: „Kneipe klingt besser.“ STEFAN ALBERTI

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