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Die Insel mit den zwei Sonnen

Sie schnüffeln Klebstoff, rauchen Zigaretten, klauen und verkaufen dies und das an die Autofahrer, die an der Ampel warten: Die Straßenkinder von Casablanca in Nabil Ayouchs Film „Ali Zaoua“ leben ziellos in den Tag hinein, bis das Unglück passiert

von DETLEF KUHLBRODT

Ali, Kwita, Omar und Boubker sind zwölf und leben als Straßenkinder im Hafengebiet von Casablanca. Sie schnüffeln Klebstoff, bekriegen sich manchmal mit der Gang von Dib, der schon etwas größer ist, rauchen gern Zigaretten, klauen, verkaufen dies und das an die Autofahrer, die an der Ampel warten. Ohne Beschränkungen leben sie ziellos in den Tag hinein.

In der Eingangsszene des vielfach preisgekrönten Films „Ali Zaoua“ erzählt Ali von seinen Träumen: Er möchte gern zur See fahren. Er hat gehört, dass es da eine Insel gibt, auf die zwei Sonnen gleichzeitig scheinen. Da möchte er gerne hin und glaubt in Wirklichkeit, ein Prinz zu sein, und erzählt, er könne ein Auto ganz allein mit dem Mund wie ein Pferd ziehen. In der anderen Wirklichkeit ist seine Mutter eine Hure, verachtet von den anderen, deren Väter zu ihr gehen.

In der zweiten Szene spielen die Kinder in staubiger Hitze auf einer Baustelle Fußball mit Konservendosen. Ein Idyll sozusagen, mit erfolgreichem Torabschluss sogar, das jäh gestört wird wie im Western, wenn Banditen in ein verschlafenes Städtchen einfallen. Feindliche Kinderköpfe recken sich über den Baustellenzaun, der Gangchef ruft „das Leben“, seine Kumpels ergänzen „ist scheiße!“, Steine fliegen, knallen an die leeren Fässer, hinter denen sich Ali, Kwita, Omar und Boubker verschanzen, ab und zu wieder hervorgucken, um sich steinewerfend gegen die Übermacht der feindlichen Gang zu verteidigen. Dann ist Ruhe, die Schlacht scheint vorbei zu sein, die Freunde verlassen ihre Deckung, der nächste Stein fliegt und trifft Ali unglücklich am Kopf. Blut spritzt, der Junge fällt um und ist tot, und die Schlacht ist zu Ende.

Eine großartige Szene, wie der ganze Film vollkommen unpathetisch erzählt; eine Szene, in der sich alle wiedererkennen können, die sich als Kinder mal mit Steinen bewarfen. Als Tod ist hier die Wirklichkeit in die Welt der Straßenkinder eingebrochen, die Welt hat einen Riss bekommen, die Zeit, die so gleichgültig unmerklich voranging, fällt auseinander, die objektive Zeit, in der Ali tot ist, ist woanders als die individuell empfundene Zeit des Jungen, der den Stein geworfen hat und seinen Anführer anlacht, oder die Zeit der Freunde, die auf ihren Freund schauen und meinen, er lebt doch noch, er macht sich doch noch in die Hose.

Es dauert ein paar Momente, bis die Freunde erkennen, dass ihr Freund tatsächlich tot ist. Der überwiegend mit Laiendarstellern, also „echten“ Straßenkindern gedrehte Film, erzählt nun davon, wie Kwita, Omar und Boubker versuchen, ihrem Freund ein Begräbnis zu verschaffen, das eines Prinzen würdig ist, um die Zeit wieder ins Lot zu bringen. Zunächst lagern sie ihn in einem Keller am Hafen zwischen, dann versuchen sie in der losen Rahmenhandlung des halb dokumentarisch wirkenden Films, Geld, eine Seemannsuniform und einen Sarg für den Freund zu besorgen, und stoßen naturgemäß auf Schwierigkeiten. Der beste Freund Alis, so eng mit ihm verbunden, wie es sonst vielleicht nur Zwillinge sind, lernt dessen Mutter kennen. Die Freunde treffen auf einen freundlichen Seemann, der sich auf ihre Seite stellt, der sich ohne viele Worte kümmert, und am Ende kann der Junge endlich begraben werden.

Zwei Jahre lang hatte der 1969 geborene Regisseur Nabil Ayouch, dessen 1997 gedrehtes Spielfilmdebüt „Mektoub“ in Marokko ein großer Publikumserfolg war, mit Straßenkindern in Casablanca an „Ali Zauoa“ gearbeitet. Er wurde dabei von der „Bayti Association“ unterstützt, die sich seit fünf Jahren vor Ort um Straßenkinder kümmert. Bis auf zwei sind alle an dem Projekt beteiligten Kinder nach den naturgemäß anstrengenden Dreharbeiten zu ihren Eltern zurückgekehrt. Glücklicherweise vermeidet der Film alle sozialarbeiterischen, um Mitleid heischenden Attitüden. Er stellt sich an die Seite seiner Protagonisten und beeindruckt vor allem im Dokumentarischen. Es ist ein Film über Kinderfreundschaften, in dem man manchmal meint, die Gesichtszüge der Mitglieder Kreuzberger Jugendbanden wiederzuerkennen.

„Ali Zaoua“. Regie: Nabil Ayouch, mit Said Taghmaoui, Mounim Kbab, Mustapha Hansali, Hicham Moussoune, u. a. Marokko/Frankreich/Belgien 2000, 100 Min.

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