piwik no script img

Dramatisches im Hintergrund

■ Das NDR-Sinfonieorchester mit Musik zur Passion und zur Auferstehung von Sofia Gubaidulina im Michel

Zum Bach-Jahr 2000 hatte die nach dem Komponisten benannte Akademie Stuttgart vier Aufträge für neue Passions-Vertonungen an Komponisten aus aller Welt vergeben. Der Deutsche Wolfgang Rihm, der in den USA arbeitende Chinese Tan Dun, der als Sohn russischer Einwanderer in Argentinien aufgewachsene Osvaldo Golijov und die in Deutschland lebende Tatarin Sofia Gubaidulina haben sich aus ihrer jeweils ganz eigenen Sicht mit den Passionen Bachs sowohl musikalisch als auch theologisch auseinandergesetzt und sehr persönlich geprägte „Passionen für das 21. Jahrhundert“ geschrieben.

Welchen Ausnahmerang zumindest zwei dieser neuen Passionsvertonungen einnehmen, nämlich diejenigen Golijovs und Gubaidulinas, hat sich sehr schnell in der Fachwelt herumgesprochen. Und so gab es, obgleich die Stücke sehr aufwendig und von größter Schwierigkeit sind, weltweit bereits mehrere Aufführungen der Passionen des Argentiniers und der Tatarin.

Sofia Gubaidulina wurde der breiteren westlichen Öffentlichkeit erstmals bekannt durch den Einsatz des berühmten Geigers Gidon Kremer für die Werke der russischen Komponistin. Auf einer seiner ers-ten Tourneen im Westen spielte er mit großem Erfolg Gubaidulinas Violinkonzert mit dem Titel Offertorium. Später arbeitete er intensiv mit ihr auf seinem eigenen Festival im burgenländischen Lockenhaus zusammen und etablierte sie im Wiener Musikleben. Seit 1993 lebt sie bei Hamburg.

Gubaidulina hat in ihrer groß besetzten und meisterlich instrumentierten russischsprachigen Komposition die Passionsgeschichte gekoppelt mit Texten aus der Offenbarung des Johannes. Ihre Johannes-Passion wurzelt tief im Verständnis russisch-orthodoxen Glaubens, in der es allerdings gar keine Tradition der Passionsvertonungen gibt. Alles Dramatische gerät bei ihr in den Hintergrund, mystische Tiefe in den Vordergrund. Gubaidulinas einzigartige Verbindung von osteuropäisch geprägten Melodielinien und Harmonien und westlichem Formdenken bringt Klangerschütterungen und soghafte Klänge hervor. Leise versickernde Streicherpassagen oder Glockentöne einerseits, ins Mark stechende, von unglaublich starker innerer Kraft aufgeladene Blechbläser-Einschübe andererseits künden von einer Innerlichkeit und einer Fähigkeit zum unsentimentalen Pathos, wie es selten zu erleben ist.

In der Hamburger Hauptkirche St. Michael wird an diesem Sonnabend aber nicht nur dieses Werk in der Uraufführungsbesetzung zu hören sein, sondern zusätzlich noch eine dreiviertelstündige neue Komposition, in der sich Gubaidulina ganz dem Geschehen des Ostermorgens widmet. Der musikalischen Passion folgt also nun die Auferstehungsmusik, die mit den Worten „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ mit einem Blick in die Zukunft schließen wird. Reinald Hanke

Sonnabend, 20 Uhr, Hauptkirche St. Michaelis (Michel)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen