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Die Endlichkeit des Horizonts

Mit Hans Georg Gadamer starb der letzte Sänger der Gutenberg-Galaxis. Die vom ihm begründete Hermeneutik aber bleibt zukunftsfähig – genau in dem Maß, in dem sie antifundamentalistisch ist

von NORBERT BOLZ

Der Erfinder der Hermeneutik ist tot. Damit ist ein Typus ausgestorben: der umfassend humanistisch gebildete, sich selbst geisteswissenschaftlich verstehende Philosoph. Jetzt gibt es nur noch Philosophiebeamte. Um die Spannweite dieser hundert Jahre wachen Lebens zu ermessen, muss man sich nur vor Augen führen, dass Hans Georg Gadamer Zeitgenosse von Heidegger und Derrida war. In einer akademischen Welt, in der die Avantgarde nur noch Lust an der Geisteraustreibung hat, genoss Gadamer den Anachronismus humanistischer Geisterbeschwörung. Und auch seine Nichtleser waren bis zuletzt verzaubert von der unglaublichen rhetorische Präsenz. In Gadamer verkörperte sich noch einmal der Philologe als selbstbewusster Schönredner. Er war der letzte Sänger der Gutenberg-Galaxis.

Wer einen Nachruf auf Gadamer nutzen will, um ihn als großen Denker zu loben oder gar als politisch unkorrekt zu tadeln, sollte an die Warnung denken, die Karl Markus Michel einmal im Blick auf Jürgen Habermas formuliert hat: Dieser Mann ist so groß, dass die meisten bei dem Versuch, ihm auf die Schulter zu klopfen, nur die Waden treffen. Das gilt natürlich auch für Ohrfeigen. Wer Gadamer „kritisch“ würdigen will, darf sich nicht in seinen philosophischen Lehrjahren verlieren. Wie bei kaum einem anderen Autor hängt das Urteil über ihn an einem Werk – und das ist schon über vierzig Jahre alt: „Wahrheit und Methode“.

Offiziell geht es um eine philosophische Hermeneutik, die eine Grundlegung der historischen Geisteswissenschaften leisten soll. Sie orientiert sich aber primär am Alltag und an der Kunst, nicht an der Wissenschaft. Nicht die Wissenschaft, sondern die Kunst verbürgt Wahrheit – das ist der eine Teil des Titels. Zum zweiten besagt er: Hermeneutik ist keine Methode. Verzicht auf Methode heißt aber nicht Verzicht auf Strenge. Theologie und Jurisprudenz sind für Gadamer die großen Vorbilder für die Praxis der Anwendung eines normativen Texts. Und genau hier steckt der entscheidende Ansatz: Verstehen ist untrennbar von seiner Anwendungswirkung. Deshalb sind die Predigt und das Urteil die hermeneutischen Idealformen. Die Bibel verstehen heißt predigen; und das rechte Verständnis des Gesetzestexts zeigt sich im Urteil. Die Anwendung erfolgt also nicht nachträglich.

Verstehen heißt anwenden – und deshalb hat jedes Verstehen eine Wirkung. Wenn niemand einfach lesen kann, was dasteht, dann ist Hermeneutik in der Tat „die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht“ (Odo Marquard). Diese Konzeption verdankt Gadamer dem Begriff existenzialen Verstehens, das er in einem der heiligen Texte seiner Studentenzeit, „Sein und Zeit“, fand. Heidegger konzipierte das Verstehen gerade nicht als Handlung eines Subjekts und deshalb auch nicht als möglichen Gegenstand einer Methode. So weit, so gut.

Gadamers Hermeneutik bekommt ihre charakteristische Schärfe aber erst im nächsten Schritt, der das Verstehen in eine Logik von Frage und Antwort einbettet. Der Text stellt uns eine Frage – und damit sind wir betroffen von Tradition. „Verstandene Fragen können nicht einfach zur Kenntnis genommen werden. Sie werden zu eigenen Fragen.“ Deshalb heißt Hermeneutik, die Frage zu formulieren, auf die der Text die Antwort sein könnte. Betroffenheit durch die Tradition besagt aber auch: Verstehen erfordert Nachfolge oder wie es einmal paramilitärisch heißt: „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“. Wer versteht, ist einverstanden und gehorcht dem Geheiß der Tradition.

Das sind natürlich Töne, die sehr schrill in unseren aufgeklärten Ohren klingen. Aber genau darum geht es Gadamer. Seine Hermeneutik macht der Aufklärung den Prozess; er will sie nicht nur abklären, sondern berichtigen. Wahrheit und Methode ist das philosophische Projekt der Antimoderne: Rettung der legitimen Vorurteile, Rehabilitierung der Autorität, und zwar vor allem jener anonymen Autorität, die man Tradition nennt. Im „Immer schon“ des Verstehens bleiben wir diesseits der guten Gründe und besseren Argumente.

Diese schärfstmögliche Provokation der Aufklärung ist zugleich Gadamers stärkster Gedanke, die Einsicht in die unaufhebbare Vorurteilsstruktur des Verstehens. Die hermeneutische Situation, in der ich mich immer schon befinde, wenn ich einen Text verstehen will, ist der Inbegriff meiner Vorurteile; sie bilden meinen Horizont, meine unübersteigbare Sichtbeschränkung. Wenn es sich aber so verhält, dann erweisen sich gerade die Aufklärung und der moderne Szientismus als besonders hartnäckige Formen der Selbstverkennung. „Wer seiner Vorurteilslosigkeit gewiss zu sein meint, indem er sich auf die Objektivität seines Verfahrens stützt und seine eigene geschichtliche Bedingtheit verleugnet, der erfährt die Gewalt der Vorurteile, die ihn unkontrolliert beherrschen, als eine vis a tergo.“

Hermeneutik ist deshalb durch und durch konservativ, denn sie durchbricht die spezifisch moderne Selbstverkennung als autonomes Subjekt der Geschichte ja gerade in der Einsicht, dass wir der Geschichte gehören. „Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“ Dieser Konservativismus der wirkungsgeschichtlichen Traditionszusammenhänge resümiert sich in der Formel, dass wir immer mehr Sein als Bewusstsein sind. Auch das ist eine Art, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und in der Tat liest „Wahrheit und Methode“ die „Phänomenologie des Geistes“ rückwärts. Gadamer beginnt beim revolutionären Phantom des sich wissenden Subjekts und endet beim Konservativismus der bestimmenden Substanz. „Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen aufgehen.“

Die kritische Rationalität ist der Hase, dem der Igel Tradition sein „Ich bin schon hier“ zuruft. Mit anderen Worten: Die positive Voreingenommenheit für die ästhetischen und semantischen Qualitäten der großen Texte macht diese immun gegen die prüfende Skepsis. „Wir sind als Verstehende in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, was wir glauben sollen.“ Realität wird also konstituiert durch das „set of beliefs“, das eine Gemeinschaft teilt; und diesen Interpretationskonventionen kann niemand entkommen. Jenseits der Vorurteilsstruktur ist nirgendwo.

Um Gadamers Ferne zum Zeitgeist zu ermessen, genügt eine kurze Liste seiner Lieblingsvokabeln: Autorität, Tradition, Vorbild, Nachfolge, legitimes Vorurteil, Bildung, Humanismus, Vollkommenheit, Leitbegriff. Das Klassische gilt als Vorbild, aus dem eine „überlegene Wahrheit“ spricht, die uns verpflichtet. Der Philologe, dieser Freund schöner Reden, „lässt Vorbildliches als Vorbild gelten“. Das funktioniert aber nur durch ein – Vorurteil. Das hermeneutische Ur-Vorurteil besteht nämlich darin, dem Text, mit dem man es zu tun hat, Wahrheit zu unterstellen. Dieses „Vorurteil der Vollkommenheit“ schützt den Philologen vor den Praktiken der Dekodierer, also der Ideologiekritiker, Historiker und Psychologen.

Gadamer hatte keine Probleme mit dem Bildungskanon – es ist nach wie vor der des literarischen Humanismus. Die Bücher eröffnen die vertraute Welt des immer schon Verstandenen; hier regiert der Hermeneut. Doch sie gehört natürlich ins Aufschreibesystem 1800, wie Friedrich Kittler es so ingeniös beschrieben hat. Längst arbeiten Computer an der chiffrierten Welt des Fremden und Feindlichen; und hier herrschen die Kryptographen. Schleiermacher oder Alan Turing? Beide gehen davon aus, dass man nicht einfach lesen kann, was dasteht. Aber Gadamer sieht hier kein Dekodierungsproblem, sondern ein Applikationsproblem. Der Leser muss, um den Text zu verstehen, verstehen, dass er zum Text gehört.

Der Text spricht zu uns; ihn zu verstehen heißt, ihm zu entsprechen, indem man seinen „überlegenen Anspruch“ anerkennt. Hermeneutik will also kein Herrschaftswissen, sondern ein Dienstwissen sein. Texte werden nicht angeeignet, sondern umgekehrt dient der Interpret dem Geltungsanspruch des Texts. Die Endlichkeit des Horizonts, in dem der Hermeneut operiert, und die Dienstform seiner Praxis stellen immerhin sicher, dass die Interpretationen nie dogmatisch werden: Andere und Spätere müssen anders lesen.

Hermeneutik ist zukunftsfähig genau in dem Maße wie sie antifundamentalistisch und – mit einem präzisen Wort Stanley Fishs – „antifoundationalist“ ist; nicht weil sie keinen heiligen Text hätte, sondern weil sie so viele hat und ihre Auslegungen kein Ende finden. Gadamer hat zugunsten der philosophischen Wahrheit auf die wissenschaftliche Methode verzichtet. Den nächsten Schritt, nämlich zugunsten eines konzilianten Seins zum Text auf die Wahrheit zu verzichten, hat er nicht mehr getan. Wenn man aus Gadamer alles Autoritäre und ungelenk Konservative streicht, dann bleibt nicht Jürgen Habermas übrig, sondern Odo Marquard. Und das Motto dieser post-Gadamer’schen Hermeneutik könnte lauten: Das Beste am Text ist der Kontext, den uns die Interpretation genießen lässt.

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