: Das Leben vor der Schrankwand
Schriften zu Zeitschriften: Das Magazin „Schönes Wohnen in der Messestadt Riem“ bringt den Kiez auf Hochglanz. Es ist Teil des Kunstprojekts „Wohnwanderungen“, das die normale Individualität des Wohnens zu ergründen sucht
Aus dem Kiez in den Kiez: So könnte man das Projekt „Messestadt Riem“ naiv beschreiben. Die Messestadt Riem ist eines der größten Städtebauprojekte Europas auf dem Gelände des ehemaligen Münchener Flughafens. Auf einem Gelände von 556 Hektar wurden 726 Wohnungen, auch öffentlich finanzierte, bereits bis Oktober vergangenen Jahres fertiggestellt. 16.000 Menschen sollen einmal dort leben. Eine Piazza allerdings ist nicht geplant.
Seit einiger Zeit haben die Riem-Einwohnerinnen und Einwohner auch ein eigenes Lifestyle-Magazin, und so kommt der Kiez unversehens auf Hochglanzpapier. Die erste und einzige Ausgabe von „Schönes Wohnen“ ist das Endprodukt der „Wohnwanderungen“, die die Münchener Künstlerin Pia Lanzinger veranstaltete. In diesen nachbarschaftlichen Führungen durch fremde Wohnungen entstand ein Austausch, der manches von den Lebensüberzeugungen offenbarte, die sich hinter dem Gesamtkunstwerk Inneneinrichtung verbergen.
Normal sind die Menschen, die dort leben: Genauso wenig wie ihr Leben den Anspruch eines Ausbruchs behauptet, so wenig tut es ihre Schrankwand-Kombination. Eine ehemalige Aussteigerin ist gar aus dem sonnig-freundlichen Barcelona nach Riem heimgekehrt. Entsprechend changieren die reichhaltigen Fotostrecken des Magazins zwischen unbewusst-anspruchsvollem Lifestyle, unabgeschlossenen Lebenswegen, Gartenzwerg-Anti-Ästhetik, autofreier Alt-68er-Ökologie und aufgeschlossen-kommunikativen Versuchen des neuen Wohnens.
Das Magazin „Schönes Wohnen“ – kontrastreich inszeniert als Persiflage auf Einrichtungs- und Designblätter – versucht dennoch, diese normale Individualität zu ergründen, vermittelt durch die jeweiligen Interieurs. Es geht etwa um „persisches Flair und europäisches Design“ in der Wohnung einer bürgerlichen iranischen Migrantin, ihrer Tochter und ihres Mannes. Die Fotos zeigen den äußerst gelungenen Einrichtungsmix aus orientalischen Accessoires und Materialien wie Glas, Leder und Stahl. Die deutschen Nachbarn halten es da, wie von den Eltern gewohnt, eher ein wenig schlichter – mit Gartenzwergen vor der Tür und Solarzellen auf dem Dach. Mindestens 1:0 also für die kosmopolitische Bourgeoisie und ihren nichtmissionarischen Privatismus.
Das Interesse von „Schönes Wohnen“ gilt aber auch der Durchdringung des öffentlichen Wohn-Raumes durch das Private – und umgekehrt. Wie wirken sich biografische Erfahrungen und kulturindustrielle Erzeugnisse auf wohntechnische Details und sozialen Gestus aus, ist die Frage, die das Magazin stellt. Dies zu analysieren versucht die Künstlerin Andrea Knobloch mit einer Collage, welche Modewerbung, Ausrisse aus Einrichtungsmagazinen und „Marienhof“-Zitate aufs Hübscheste sampelt.
„Schönes Wohnen“ könnte allgemein angesehen werden als Dokumentation moderner, halb-urbaner Lebensstile, obgleich die Empirie nicht ausgeschöpft wurde. Insofern kann das Projekt nur beanspruchen, bestimmte Leute in einer realen Modellstadt vorzustellen, die damit unverhofft von ihrer grünen Münchener Idylle in die selbstironische Lifestyle-Betrachtung mit Anspruch geraten sind. Viele scheinen aber aufgelebt zu sein in der Messestadt Riem.
Denn besonders bei den Jüngeren ist es so, dass die Popkultur, die sie aus den Medien bezogen haben, sich nun über sie als Trägerinnen weiterträgt in dieses Produkt selbstreferenzieller Kulturkritik. „Da hängen so viele Fremde drin, aber das Zimmer wirkt sehr persönlich!“ So sagt ein Betrachter über das Poster-Dekor im Zimmer der 13-jährigen Isabelle Duma. Dieser Satz trifft auch das Kunstprojekt als solches ganz gut. Und das zehnjährige Titelmodel Maimouna Boubacar posiert so perfekt, dass man denkt, man hielte das glamouröse Wohn-Design-Mag Wallpaper in der Hand. Bei der Jugend zumindest gibt es also noch Hoffnung auf wirklich „Schönes Wohnen“.
MARCEL MALACHOWSKI
„Schönes Wohnen in der Messestadt Riem“ im Auftrag von kunstprojekte riem; zu beziehen beim Verlag Silke Schreiber, München, 9,50 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen