Auf ein fröhliches „Berlin ist pleite“

Jetzt wird gespart. Und das heißt nicht mehr, dass Zahlen verschoben werden und auf Geld vom Bund gehofft werden kann. Die Berliner werden künftig dem Mangel begegnen müssen. Nur wie? Wer es sich leisten kann, flüchtet in exquisite Nischen

von JÖRN KABISCH

„Berlin ist pleite“ heißt ein Lied im neuen Programm von Pigor und den Pigoretten, mit dem die Gruppe derzeit in der Bar jeder Vernunft gastiert. „Berlin ist pleite / Det issn alta Hut / son alter Hut / Berlin ist pleite / Und das ist auch gut so“, geht der Refrain, a cappella gesungen und ziemlich beschwingt. Zum Mitsingen geradezu. Da drängt sich, obwohl die Ähnlichkeiten zugegebenermaßen gering sind, noch ein Schlager auf, ein alter: „Oh du lieber Augustin, alles ist hin“. Der Gassenhauer der ersten Nachkriegsjahre, den manch einer vielleicht gegen den Hunger sang oder auf dem Weg zum Schwarzmarkt auf den Lippen hatte. „Berlin ist pleite“ – das Lied ist die erste auffällige Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation, die nicht von Defätismus bestimmt ist, von Trauer und Ängsten, sondern von Humor gegenüber dem, was noch viel schlimmer werden könnte.

Wie sieht Berlin in ein paar Jahren aus, wenn sich der Staat mit überschießendem Sparwillen aus ganzen Teilen des öffentlichen Bereichs zurückgezogen hat? Wenn Angebote, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, nach Wirtschaftlichkeit und Effizienz ausgerichtet sind und deswegen nicht mehr die Zugangsmöglichkeit für alle im Blick haben. Wenn private Sicherheitsdienste Aufgaben der Polizei gleich so übernommen haben, dass sich die Polizei aus dem Gebäudeschutz ganz zurückzieht, und man entweder dem Sicherheitsdienst oder jemand anderem Schutzgeld zahlen wird. Wenn ein Besuch im Schwimmbad so teuer ist wie ein Opernabend, weil es jetzt nicht mehr Schwimmbad heißt, sondern Wellness-Center, und das Schwimmen darin eigentlich das Allerunwichtigste ist. Und vor allen Dingen: Wenn öffentliche Leistungen, die heute noch mehr oder wenig selbstverständlich sind, nicht mehr existieren: Parkplätze, Telefonhäuschen oder öffentliche Toiletten.

Der notwendige, nach Einkommensstufen gestaffelte Verzicht kehrt ein, und das wird eine Mangelgesellschaft ganz eigener Art hervorbringen. Ein böses Wort: Mangelgesellschaft. Und eigentlich aus der Zeit. Für die Nachkriegsgesellschaft wurde es gebraucht, und für die Zustände in Ostdeutschland zu Zeiten der DDR auch. Der Schwarzmarkt und das arbeitsteilige Schlangestehen vor dem HO-Laden sind die jeweiligen Sinnbilder für eine ausgeprägte Beschaffungskultur – mehr oder weniger, um an die Dinge für das tägliche Überleben zu kommen. Wobei das Weniger besonders die DDR betrifft, denn hier herrschte seit den Sechzigern nie ein existentieller Mangel an Bedarfsgütern. Die DDR war keine bananenfreie Zone, aber dass Südfrüchte rar und Bückware waren, bereitete den Ostdeutschen, die inzwischen mit der Versprechung lebten, dass auch die Planwirtschaft die Befriedigungen einer Marktwirtschaft erbringen könne, tiefen Schmerz. Kurz: Zur Mangelgesellschaft wurde der Osten, weil er die annähernd gleichen Konsumbedürfnisse wie im Westen nur durch diese Beschaffungskultur befriedigen konnte.

Was den einfachen Konsum angeht, herrscht heute Angebot im Überfluss. Und dennoch bestimmen neue Formen von Mangel den Alltag. Zum einen wird uns ständig – gemessen an einer bunten Scheinwelt aus hübschen, erfolgreichen und natürlich wohlhabenden Ikonen, vorzugsweise Models – die eigene Unzulänglichkeit vorgehalten, was nicht nur Statussymbole betrifft, sondern vor allem die eigene Persönlichkeit und den eigenen Körper. Das treibt uns sowohl in Fitness-Studios oder zum Schönheitschirurg, als auch zu Survivalkursen, Lifestyletrainern und Persönlichkeitscoaches. Der Weg zum Erfolg ist sozialisiert und deswegen längst auch kommerzialisiert. Aber der Weg zum Misserfolg?

Und noch eine andere Form von Mangel ist alltäglich. Die Erfahrung, dass im Zustand des Überangebots die einfachen, die Grundbedürfnisse immer schwerer zu befriedigen sind. Stichwort Informationsgesellschaft, ein Begriff, der den Mangel schon benennt. Denn im Überfluss wird die gesuchte Information, zur Nadel im Heuhaufen. Zappen und Surfen gleichen das Manko dann aus – aber es sind Ersatzbefriedigungen.

Solcher Mangel ist alltäglich, wo man ihn nie vermuten würde. Vielleicht gibt es sie auch schon bald in Berlin, die Banker, von deren Lebenssituation man bisher nur aus New York oder Hong Kong gehört hat. Die viel verdienen, aber doch nicht so viel, dass es in den Innenstädten dieser Metropolen dazu reicht, sich neben den notwendig teuren und offenbar existentiellen Statussymboeln wie Kleidung, Autos, Golfclubmitgliedschaften etc. auch noch ein Dach über dem Kopf leisten zu können. Die Banker leben wegen der überteuerten Mieten zwar an standesgemäßer Adresse, dafür aber in WGs wie bescheidene Studenten.

Beide Beispiele zeigen, welch grundsätzlichen Mängeln die Gesellschaft inzwischen gegenübersteht, und das letzte zeigt, dass es darauf ankommen wird, mit welchem Sozialverhalten darauf reagiert wird. Schon heute, in den scheinbaren Zeiten der staatlichen Überversorgung, scheint vielen das Auftreten des Staates unzulänglich. Nur, wer es sich leisten kann, weiß Abhilfe. Wo etwa die öffentliche versagt, werden die Kinder auf private Schulen geschickt. Warum braucht Berlin eine private Hochschule, diese Frage wird in der Stadt heutzutage nicht diskutiert. Dass das Projekt von DaimlerChrysler und der Deutschen Bank auch ein Armutszeugnis für die Berliner Hochschullandschaft sein könnte, beschäftigt niemanden. Das beste Beispiel aber für die Abkehr vom öffentlichen Leben sind heutzutage die Gated Communities, abgezäunte Wohnviertel mit eigener Infrastruktur, in denen eigene Regeln gelten und auch der Staat nicht gern gesehen ist. Es gibt sie schon in Berlin. Aber diese privatistischen Nischen sind teuer.

Oder aber der Mangel wird sozialisiert und in die Entscheidung aller gerückt. Porto Alegre ist dafür das Paradebeispiel. In den Achtzigerjahren stand die brasilianische Stadt vor der gleichen Situation wie Berlin heute. Sie ließ Bürgerversammlungen entscheiden, wo die wenigen Gelder, die es noch zu verteilen gab, hinfließen sollten. Die Bürger mussten auch wählen, welcher Mangel nicht behoben werden sollte und mit welchen man leben musste.

Eine Chance auf dem Weg zu einem solchen Modell ist in der vergangenen Woche wieder einmal verpasst worden. Denn obwohl der Finanzsenator offenbar gewillt war, den Bezirken die Zuständigkeiten über das Geld zu lassen, die sie in durch Personalabbau erwirtschaften, sprach der Regierende Bürgermeister ein Machtwort. Selbst das wenige Geld, das ihnen bleibt, dürfen die Bezirke nicht verteilen.

In Porto Alegre haben die Menschen gelernt, mit dem Mangel zu leben, in Berlin ist es noch ein weiter Weg bis die Menschen das Liedchen trällern, von dem eine andere Zeile so geht: „Berlin ist pleite. Und jeder tut so, als ob det tragisch wär – Na und?“