: Das Leben schmeißen – mit und ohne Heroin
Eine Drogenkarriere
Ich kenne Ingeborg seit mehr als fünf Jahren. Wir haben uns am Kottbusser Tor kennen gelernt. Sie war völlig verstört und wusste nicht, wer sie war und wie sie überhaupt am „Kotti“ gelandet war. Die Leute in der Unterführung schubsten sie hin und her. Ich sah, sie benötigte Hilfe, und ging auf sie zu. Sie starrte mich mit leeren Augen an. Ich half ihr, sich auf eine Bank zu setzen. Nach einiger Zeit fühlte sie sich wieder etwas besser. Sie rauchte eine Zigarette und wir kamen ins Gespräch, wobei sich mein Verdacht bestätigte, dass sie auf Heroin war, aber auch noch auf irgendwelchen Pillen. Nachdem sie sie alle aufgezählt hatte, bat sie mich, ihr einen auszugeben – sie sei pleite. Wir gingen nach oben in eine Kneipe. Nachdem sie einen doppelten Whisky heruntergestürzt hatte, fragte sie mich böse: „Was willst du von mir?“ Ich war beleidigt. Daraufhin fing sie an, mir weiter was von sich zu erzählen.
Ingeborg wurde als das vierte unerwünschte Kind ihrer Mutter 1963 in Hamburg geboren. Mit dreizehn haute sie von zu Hause ab, nachdem ihr Vater gestorben war – und landete gleich auf dem Drogenstrich, vorerst ohne selbst Drogen zu nehmen. Ein Freier verschaffte ihr bald einen Job in einem Bordell. Weil sie dort zu viel Geld abliefern musste und zugleich angefangen hatte, gelegentlich Heroin zu nehmen, entschied sie sich, nach Berlin zu gehen, um noch einmal neu anzufangen.
Hier beantragte sie zuerst Sozialhilfe, man gab ihr außerdem eine Wohnung. Gelegentlich ging sie in einer Bar am Kurfürstendamm anschaffen, wo die Frauen das meiste Geld mit Animieren – das heißt mit Trinken – verdienten. Eines Tages lernte sie dort einen Inder kennen, den sie heiratete, damit er eine Aufenthaltserlaubis bekam. Rajiv war ein bisschen verliebt in Ingeborg und wollte sie unbedingt seinen Eltern vorstellen. Sie fuhren nach Bombay, wo sie noch einmal heirateten; die Zeremonie dauerte drei Tage. Anschließend fuhren sie in die Flitterwochen nach Kaschmir. Dort wurde sie malariakrank. Wieder zurück in Berlin, versuchte ihr Mann sie von den Drogen abzubringen, weil sie von der Krankheit noch allzu geschwächt war. Stattdessen fixte sie ihn an. Ingeborg wurde irgendwann schwanger – das Kind starb bei der Geburt. Wenig später starb auch Rajiv an einer Überdosis Heroin. Bei seiner Beerdigung auf einem Kreuzberger Friedhof kam es zu einer Schlägerei zwischen Rajivs angereisten Brüdern und ihrem neuen Freund Jamil, einem arabischen Dealer. Dann starb auch noch die Mutter in Hamburg.
Von ihr erbte Ingeborg jedoch überraschend 20.000 Mark. Das Geld verballerte sie nach und nach für Drogen. Als es alle war, versuchte sie sich statt mit Prostitution mit Diebstählen über Wasser zu halten, wobei sie sich auf Antiquitäten spezialisierte. Sie wurde jedoch erwischt und kam in den Knast. Dort wurde sie die Geliebte einer Lesbierin, aber auch eine der Wächterinnen war bald scharf auf sie. In der Gärtnerei prügelten sich die beiden um sie, anschließend verlegte man Ingeborg in ein anderes Gefängnis. Hier hatte sie dann das Problem, plötzlich von allen Drogen abgeschnitten zu sein. Stattdessen machte sie eine Entzugstherapie mit. Als sie entlassen wurde, fing sie jedoch erneut an zu fixen.
Langsam machten sich die ersten körperlichen Beschwerden bemerkbar – immer wieder musste sie ins Krankenhaus: mal wegen Trombosen und Abszessen, mal wegen Kreislaufzusammenbrüchen. Und mehrmals machte sie eine Entgiftung mit. Dazu gehörte auch, dass sie an Frauenausbildungsprogrammen teilnahm. Irgendwann besaß sie Schreibmaschinen- und Stenografiekenntnisse und kannte sich in Buchhaltung sowie Büroführung aus. Wie man sich attraktiv zurechtmacht und wie man richtig auftritt, hatte sie bereits in den diversen Bordellen gelernt. Einmal nahm sie sogar an einem Innenarchitekturkurs teil, was danach ihrer Wohnung zugute kam, die ihr wieder das Sozialamt bezahlte. Allerdings brach diese Ordnung jedesmal zusammen, wenn sie einen Rückfall bekam und wieder mal eine Runde in der Drogenszene drehte. Dann sah ihre Wohnung aus wie nach einem Überfall und Inge wie eine lebende Leiche.
Einmal schenkte ihr ein Freier, ein Zahnarzt, eine neue Brücke, weil ihre Schneidezähne fast verfault waren. Ein anderer renoviert ihr gelegentlich die Wohnung umsonst. Ein weiterer, der in einer privaten Arbeitsvermittlung arbeitet, verschaffte ihr 1995 einen Job in einer Bank-Filiale, wo sie es dann sogar bis zur Kontoführerin brachte. Ab da drehte sie ihre Drogenrunden nur noch während ihres Jahresurlaubs, den sie wochenweise stückelte. Gelegentlich leistete sie sich darüber hinaus auch noch an den Wochenenden einen Schuss – zusammen mit dem Zahnarzt.
Ingeborg führt ein fast perfektes Doppelleben. Als ich sie kennen lernte, war sie gerade auf Urlaub, dachte jedoch in ihrer Verwirrtheit, sie sei mit dem Zahnarzt unterwegs, für den sie mich anfangs sogar gehalten hatte. Jetzt sehen wir uns fast nur noch, wenn ich etwas bei „ihrer“ Bank zu erledigen habe. Und jedesmal bin ich aufs Neue überrascht, wie souverän sie da den Laden schmeißt.
LILLI BRAND
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen