: Eine Diktatur aus dem Bauch
Rätselhaftes Serbien: Die Weltöffentlichkeit schaut auf Den Haag, weil sie sich von dort Auflärung über die Verbrechen des Slobodan Milošević erhofft. In Belgrad nimmt man den Prozess ungerührt hin – selbst die frühere Opposition vom Radiosender B 92 hält die Anklage für dilettantisch vorbereitet
von ANDRÉ MEIER
Die Sonne scheint, und der Mann, der uns vom Flughafen in Belgrads Zentrum fährt, trägt ein T-Shirt. Wir haben lange Unterhosen im Koffer. Und warme Socken auch. Weil das, was wir bisher vom Balkan sahen, vom Bildschirm kam und ein wüster Flickenteppich war, auf dem sich dick eingemummte Flüchtlinge von A nach B und wieder zurück bewegten, während Bomben vom Himmel fielen und Panzer über graue Felder rollten, aus denen man hin und wieder Leichen zog. Alles irgendwie frostig. Gut, inzwischen, das wussten wir natürlich, hatte auch hier die Demokratie gesiegt, waren Wind, Wetter, Wehrkraft und Wirtschaft nicht mehr in der Hand dieses teigig kleinen Mannes, der – untersichtig fotografiert – ein wenig an Benito Mussolini erinnerte und jetzt in Den Haag sitzt, weil seine Untertanen es versäumt hatten, ihn, wie damals die Italiener ihren Duce, im revolutionären Rausch selbst zu richten. Nun haben sie den Salat. Jetzt sitzt er erhobenen Hauptes in diesem sonderbaren Tribunal und erklärt altertümlich kostümierten Juristen, dass sie keine Ahnung hätten von dem, was im Südosten des alten Europas die Völkerschaften mit archaischer Verve mehr als zehn Jahre übereinander herfallen ließ.
Ein, zwei Tage waren die Kameras der Welt auf ihn gerichtet, wurden seine Sätze bruchstückhaft zitiert und unter polemischen Kommentaren begraben. Dann zogen die Übertragungswagen weiter und die Gerechtigkeit nahm ihren Lauf. Dachten wir wenigstens, bis der Schriftsteller Leon de Winter uns erzählte, dass er dem Monster in die Augen gesehen hätte. Der Holländer und Jude steckte als junger Mann vor 25 Jahren für Hans-Jürgen Syberberg Puppen in SS-Uniformen. „Hitler, ein Film aus Deutschland“ hieß das Werk. Und wie einst Syberberg, der heute in Vorpommern das Gut seines Vaters rekultiviert, glaubt auch de Winter nicht, dass sich das Destillat des Bösen in der leiblichen Hülle eines Einzelnen finden und juristisch entsorgen lässt. „Er hat eine Wahrheit bei sich“, sagt de Winter über den Angeklagten Milošević, weil der nicht müde wird, mit dem Finger auf den Westen zu zeigen. Und der Dichter erinnert uns an die Schadenfreude, die in Deutschland, Österreich und anderswo aufkam, als Ende der 80er-Jahre Titos Imperium zu zerbröseln begann. Jeder dachte anfänglich, er könne auf dem Balkan sein eigenes Süppchen kochen, doch dann ist das Feuer außer Kontrolle geraten: „Wir hatten alle das große A-Wort im Kopf und haben es trotzdem zugelassen.“
Auch dass noch, Auschwitz! Kein Wunder, dass wir nicht an Sonnenbrille und Sommerjacke dachten, als wir beschlossen, in Slobos Heimat zu reisen, um zu hören und zu sehen, was der Serbe so denkt, über uns und sich, die Schuld und Den Haag. Der erste Serbe, den wir sprechen wollen, ist eine Serbin, jung, schön, erfolgreich und leider nicht bereit, sich mit uns einzulassen. „Darüber hat sie absolut keine Lust mehr zu reden“, lässt uns die Dramatikerin Biljana Srbljanović ausrichten. Dafür haben wir Verständnis. Jedenfalls bis wir den Wiener Standard aufschlagen und aus ihrer Feder die Klage lesen müssen, dass das für ihr Land so „schicksalhafte“ Thema Milošević für „die Weltöffentlichkeit schon ganz verbraucht, uninteressant, veraltet ist“.
Rätselhaftes Serbien, denken wir oder einfach nur Zicke, und gehen ins Café. Unser Belgrader location-scout fragt, warum auf der Liste mit den Wunschzielen, die wir ihm zukommen ließen, gleich hinter „1. Kriegstrümmer (Nato-Bomben)“ als Zweites „Tito-Denkmal“ steht. Er jedenfalls kenne hier keins und auch der Kellner schüttelt den Kopf, gibt aber dann den Witz zum Besten, wo Titos Frau von einer Jugendfreundin Besuch bekommt, ihr das Album mit ihren Dutzenden von Sommer-, Herbst- und Winterresidenzen zeigt und dann schließlich sagt, stell dir mal vor, wie reich wir erst wären, wenn ich auch noch gearbeitet hätte.
Fast vierzig Jahre hat Tito dieses Land regiert und sozialistisch, aber blockfrei durch den Kalten Krieg gezogen. Trotzdem ist der Mann zwei Jahrzehnte nach seinem Tod nur noch eine Lachnummer. Sein mit Pathos postuliertes Völkerkonglomerat hat sich als Chimäre entpuppt. „Selbst Milošević hat ihn nicht respektiert!“, erklärt uns eine Mitarbeiterin des am Stadtrand gelegenen Josip Broz Tito Memorial Centre, während sie uns zum Grab des Marschalls führt. Als Slobo als neuer Präsident in Titos alte Villa zog, hat er die Gedächtnisanlage mit einer Ziegelwand durchschnitten. Nur, um bei Kaffee, Cognac oder Slibowitz nicht auf den dahingegangenen Vater des dahingegangenen Jugoslawiens schauen zu müssen.
Deshalb nur blieben die Scheiben des Memorial Centre heil, als im Frühjahr 1999 Nato-Bomber Milošević’ Behausung unter Beschuss nahmen. Überhaupt: der Krieg. Ein serbischer Kameramann zeigt uns Bilder, die er während der Angriffsnächte für westliche Korrespondenten aufgenommen hat. Wir hören deutsche und englische Wortfetzen, wir hören Techno-Musik, während vor der Kamera die Parteizentrale der Milošević-Sozialisten in zwei Angriffswellen attackiert wird. Erst brennt der Sockel, dann gehen die oberen Geschosse in Flammen auf. „Geil!“, ruft irgendwer mit süddeutscher Zunge aus dem Off. 1.500 tote Zivilisten und Soldaten, erzählt man hier, hat dieser Krieg auf serbischer Seite gekostet. 10.000 Albaner sollen, sagt das Tribunal, im Kosovo durch Milošević’ Leute getötet worden sein. Opfer, die, so behauptet man in Den Haag, nicht zu beklagen wären, hätte es nicht eine Ideologie gegeben, auf die sich Milošević stützen konnte, in deren Namen er sein ethnisch reines Großserbien herbeizuschießen, herbeizuvergewaltigen und herbeizusäubern versuchte.
Also folgen wir dem Fingerzeig des Tribunals und gehen zur Serbischen Akademie der Wissenschaft und Künste. Hier wurde 1986 jenes Pamphlet verfasst, das, so die Anklage, Milošević quasi als sein „Mein Kampf“ diente. Im Erdgeschoss des Gebäudes in der Knez Mihaljova zeigt die hauseigene Galerie alte serbische Uniformen. Schön, denken wir, das passt, und klopfen an die dicke hölzerne Tür des Präsidenten. Dejan Medaković ist ein älterer Herr und heißt uns auf Wienerdeutsch willkommen. Sein Urgroßvater hätte dort bei Hegel promoviert, verrät der Historiker, als er hört, dass wir aus Berlin kommen. Dann spricht er über Goethe und Herder und den Jammer darüber, dass die Deutschen heute einfach nicht in der Lage seien, ihre Führungsposition in Europa intellektuell zu flankieren.
Vor zwei Jahren hat Medaković die Laudatio auf Peter Handke gehalten, als der in Belgrad zum „Serbischen Ritter“ geschlagen wurde. Die Ehrung sei ein Zeichen der Anerkennung für die „Tapferkeit“ des Autors bei der Erläuterung der Tragödie Serbiens angesichts der „bestialischen und brutalen“ Nato-Aggression, sagte er damals und würde das vermutlich heute auch noch tun. Uns aber interessiert jenes ominöse Memorandum, von dem in Den Haag die Rede war und das entstand, als er hier noch Generalsekretär war. Damals, so holt Medaković aus, hätten Kroaten und Slowenen sich daran gemacht, ihren Ausstieg aus Jugoslawien vorzubereiten. Nur deshalb hätte man sich zusammengesetzt und aufgeschrieben, welche – vor allem wirtschaftliche – Folgen dies für die Serben hätte. Der Bund der Kommunisten, zu dessen Führungsspitze damals auch Milošević gehörte, glaubte noch, den Tito-Staat retten zu können, und machte, so klagt Medaković, Zugeständnis um Zugeständnis. Kroaten, so raunt der Präsident, hätten das unfertige und unbestätigte Grundsatzpapier entwendet und der Öffentlichkeit zugespielt, um zu belegen, dass auch die Serben dem Separatismus frönten.
Die Partei tobte und der Westen feierte die antibolschewistische Unbeugsamkeit der Akademie. Deshalb, so kichert der Präsident, der in jenen Jahren mit dem Großen Verdienstkreuz der BRD und dem Österreichischen Verdienstorden ausgezeichnet wurde, ist es ein Witz, dass er und seine Kollegen nun als geistige Brandstifter der Balkantragödie angeprangert werden. Kein Wort stünde in diesem Memorandum von Vertreibung und ethnischer Säuberung. Nein, da hat er Recht, sogar der Schweizer Presserat hat das bestätigt. Aber dafür Forderungen nach der „Herstellung der vollen nationalen und kulturellen Integrität des serbischen Volkes, unabhängig davon, in welcher Republik oder Provinz es sich befinden mag“. Und natürlich hat die Akademie nicht protestiert, als sich der zum Nationalisten gewendete Milošević 1989 ins autonome Kosovo begab und der serbischen Minderheit zurief: „Niemand wird euch mehr schlagen!“ Was wollen Sie, fragt uns der Präsident: „Würde es Ihre Regierung erlauben, wenn in Bayern Terroristen anfangen würden, für die Abtrennung von Deutschland zu bomben?“ Wir zucken mit den Schultern. Einerseits, weil uns der Gedanke abwegig erscheint, und auch weil die Frage, selbst rhetorisch gemeint, nur schmerzhaft zeigt, wie weit Europa inzwischen mental auseinander gedriftet ist.
„Das Individuum tut, was es tut, aus seiner Persönlichkeit heraus“, denken wir beim Gehen mit Hegel, und Veran Matić gibt uns Recht. „Das ist Quatsch“, antwortet der Chef des Senders B 92, als wir ihn nach der vermeintlichen Initialwirkung des Akademiepapiers fragen. „Milošević hat seine Politik aus dem Bauch heraus betrieben.“ Dann beklagt Matić, der zu jenen Oppositionellen gehört, die das Fernsehen bis zum Sturz Milošević’ bald täglich präsentierte, die Wirkung, die das Den Haager Tribunal unter seinen Landsleuten hätte. Unvorbereitet wirke die Anklage, viele Zeugen unglaubhaft, Milošević scheint die Verhandlung zu dominieren: „Eine Mehrheit will den Kerl noch immer verurteilt wissen, aber zugleich wünschen sich die Leute hier auch, dass das Tribunal zum Debakel wird.“ Matić muss es wissen, sein Sender überträgt den Prozess in voller Länge – obwohl er die Befürchtung hegt, dass Den Haag der innerserbischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit alles andere als zuträglich ist. Denn so etwas gibt es auch, einmal wöchentlich im B-92-Programm: „Wahrheit, Verantwortung, Versöhnung“ heißt die Sendung, die den blutigen Zerfall Jugoslawiens aufarbeitet und dabei die Serben auch mit jenen Verbrechen konfrontiert, die in ihrem Namen, von ihren Leuten begangen wurden. Inzwischen ist die Sendung nicht nur die am meisten geschmähte im Programm, sondern auch die mit den besten Einschaltquoten. Na also, denken wir, fahren ins Hotel und packen. Am Flughafen öffnet eine Zöllnerin unseren Koffer, sieht Socken und Unterhosen und fragt, wohin wir denn fliegen. „Deutschland“, sagen wir und sie nickt: „Ja, da braucht man warme Sachen!“
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