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Triebe im Kirschgarten

In der Tschechow-Matrix: Heute beginnt das Kulturfestival Prag–Berlin. Theaterfans kommen dabei voll auf ihre Kosten. Die gezeigten Gastspiele repräsentieren die avantgardistischeren Bereiche des aktuellen tschechischen Bühnengeschehens

Schwab, Marthaler, Handke sind neben Tschechow wichtige Bezugspunkte

von TOM MUSTROPH

Das „Theater am Geländer“ in der Prager Innenstadt ist ganz vom Fernsehen erobert. Das ist keine Sensation. Schließlich hat Staatspräsident Vaclav Havel in diesem Theater als Kulissenschieber und Dramaturg gearbeitet. In den letzten Jahren zeigte er gern seinen Staatsgästen den legendären und für die „Velvet Revolution“ so wichtigen Ort. Lou Reed von „Velvet Underground“ soll hier gewesen sein, auch Frank Zappa, der sich sogar als Kulturbotschafter Tschechiens verpflichten ließ.

Heute aber gilt das Treiben der TV-Leute keinem Staatsakt. Das Theater selbst steht im Mittelpunkt. Künstler aller Genres bevölkern die liebevoll vom letzten Intendanten Petr Lebl eingerichtete Theaterkneipe. Der Direktor der Philharmonie ist ebenso unter den Gästen wie der Techniker, der den großen Streik der Fernsehschaffenden im letzten Jahr mit anführte. Jetzt wieder in Lohn und Brot, hat er die Derniere der Erfolgsinszenierung „Tanja, Tanja“ von Jan Antonin Pitinski aufgezeichnet. Theater finde im tschechischen Fernsehen höchst selten statt, versichern Umstehende. „Tanja, Tanja“ muss also bedeutend sein.

Sechs der sieben Figuren geht es darum, Liebe und Nähe zu finden. Sie versammeln sich in einem Landhaus und versuchen Beziehungen zueinander aufzunehmen. Die junge Moskauer Autorin Olga Muchina hat ein Tschechow’sches Handlungsgefüge auf neurussische Verhältnisse umgeschrieben. Sie lässt Personen fast folgenlos umeinander kreisen, bevor es dann doch zum Eklat kommt. Jeder ist frei, kann wieder träumen, ist aber auch losgelöst von einstigen Bindungen und schwebt deshalb als isoliertes Partikel durch den sozialen Raum. Tschechows um den Sinn des Lebens ringendem Landadel ging es vor gut einem Jahrhundert ähnlich.

Am Hause kann man den Vergleich bequem anstellen. Lebl, der bis zu seinem Freitod im Jahre 1999 (er erhängte sich 34-jährig in der Kulisse von Schwabs „Präsidentinnen“) als der kommende Regiestar gehandelt wurde, hat den depressiven „Iwanow“ inszeniert.

Beide Produktionen sind beim Festival tschechischer Kunst und Kultur „Prag-Berlin“, das heute in Berlin beginnt, vertreten. Tschechow steht hoch im Kurs in Tschechien, bestätigt Vladimir Moravek den ersten Eindruck. „Die Tschechoslowakei war wahrscheinlich das atheistischste Land des Sozialismus. Die Menschen können nicht so einfach auf den Katholizismus zurückgreifen wie etwa die Polen. Tschechows Figuren befinden sich auf einer permanenten Suche nach dem Glauben. Sie sind in einer Matrix von Sehnsüchten gefangen, die aktuellen Sehnsüchten sehr nahe kommt.“

Der 37-Jährige hat in den Augen der Öffentlichkeit Lebls Rolle als ästhetischer Avantgardist und internationale Regiehoffnung übernommen. In seinem schmucken Stadttheater in Königgrätz arbeitet er derzeit an einer Tschechow-Trilogie („Drei Schwestern“, „Die Möwe“, „Onkel Wanja“). Zwei Drittel sind fertiggestellt. In der „Möwe“ heben sich die Figuren vor monochromem Hintergrund als schwarze Silhouetten ab. Sie sind als Zeremonienmeister eines Todeskults inszeniert. Mit hoher Intensität spielen sie ihren Glauben, ihre Hoffnungen und ihr Scheitern durch. Moravek bringt Figuren aus anderen Tschechow-Stücken als Untote auf die Bühne, die die Geschehnisse düster kommentieren. Für „Onkel Wanja“, den Abschluss der Trilogie, plant er, alle Zu-Tode-Gekommenen als Triebe im Kirschgarten in einer neuen, Hoffnung spendenden Form aufgehen zu lassen. Beim Festival ist er mit „Marysa“, der kontrovers rezipierten Dekonstruktion eines tschechischen Nationalepos, vertreten.

Auch Dusan David Parizek, der zwischen Deutschland und Tschechien hin und her pendelnde Organisator des Festivals, zeigt eine Regiearbeit („Volksvernichtung“ von Werner Schwab). Der nach 1989 nach Tschechien zurückgekehrte Sohn eines Emigranten hat sich in der Prager Szene einen guten Ruf als Leiter einer freien Gruppe sowie als Strukturerneuerer erworben. Zu Beginn der nächsten Spielzeit wird er mit seiner Truppe das 300-Plätze-Theater „Komödie“ übernehmen. Er plant, nur 9,5 feste Stellen einzurichten; alle anderen Mitarbeiter werden projektbezogen beschäftigt. Diese Verbindung der Vorteile von Off- und Stadttheater ist neu für Tschechien (und auch hierzulande alles andere als die Regel). Die jüngsten Strömungen im tschechischen Theater vertritt das Jugendtheater M.U.T. (Mensch und Technik), das aus der alternativen Szene im Stadtteil Zizkov erwachsen ist. Die Twens ließen sich von einem Gastspiel Christoph Marthalers in Prag inspirieren. Von der anti-illusionistischen Spielweise her sind sie hiesigen Live-Art-Gruppen wie Gob Squad verwandt; von ihrem Bemühen und ihrem Erfolg, neue Dramatik vorzustellen, erinnern sie an das Team der Baracke des Deutschen Theaters. Als Berliner Gastspiel haben sie Peter Handkes „Selbstbezichtigung“ mitgebracht.

In dieser Zusammensetzung repräsentiert das Festival die avantgardistischeren Bereiche des tschechischen Theaters der letzten fünf Jahre. Ob es die gleiche Bedeutung erringen kann, die es aufgrund formaler und inhaltlicher Experimente in den 60er-Jahren hatte, bleibt abzuwarten. Immerhin wird so die Gegenrichtung eines Kulturaustausches in die Wege geleitet, der in Form des Festivals deutschsprachiger Theater in Prag in einer Richtung bereits begeistert aufgenommen wurde. Und: So eine eindrucksvolle Hybride aus Grufti- und Wilson-Ästhetik wie die von Vladimir Moravek hat Berlin noch nicht gesehen.

Festivalprogramm unter www.prag-berlin-festival.de

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