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Der Balzac von Berlin

Der Blick in zehn Wohnungen reicht aus für ein Panorama der condition humaine: „Qualverwandt oder Wenn der Postmann zweimal klingelt“ von Lothar Lambert

Nur wenige Menschen haben einen Überblick über das Elend der Welt. Mit Sicherheit gehören Lothar Lambert und die vielen ambulanten Pflegekräfte dazu, die am Tropf der Pflegeversicherung hängen und täglich die Städte durchqueren. Das wäre die prächtige Basis für eine realistische und abwechslungsreiche TV-Serie, aber als Spielfilmthema ist das auch nicht schlecht.

Rüdiger Herzberg, Ex-Lastwagenfahrer und gerade aus dem Gefängnis entlassen, will jetzt auf Pfleger umsatteln. Der „Pfleglich“-Service nimmt es mit den Referenzen nicht so genau und lässt den dicken, gutmütigen Mann mit Glatze, der ein bisschen rechtsradikal ist, sofort auf die längst nicht nur alte Kundschaft los. Denen begegnet Rüdiger mit stoischer Gelassenheit, nötigenfalls auch mit Strenge.

Frau Horn, Frau Korkmaz, Frau von Althoff, Herr Reza, Herr Anderson, sie alle haben einen Schaden, leben irgendwo versunken in Traumwelten, Vergangenheiten, paranoiden, autoerotischen und anderen Manien. Zuerst haben nicht wenige dieser Pflegeobjekte ein Problem mit dem glatzköpfigen Mann. „Sind sie ein Fascho?“ „Fascho? Ich bin ein Deutscher!“ Und wem immer es passt oder auch nicht, wird eine Passage aus seinem Lieblingsbuch „Vaterland“ von Robert Harris vorgelesen. Frau Korkmaz fühlt sich davon nicht gestört. Rüdigers latente Ausländerfeindlichkeit wird aber auch von Herrn Reza auf die Probe gestellt, die gemeinsame Vorliebe für große Brüste füllt den anfänglichen Graben aber auf.

Manne, ein skrupelloser Freund aus Gefängniszeiten, will Rüdiger dazu bringen, die Alten und Kranken auszurauben. „Du pass mal uff, ich hab mich nicht umsonst von dir ficken lassen.“ Rüdiger hat aber etwas anderes vor, sein Projekt heißt „Aufbau einer bürgerlichen Existenz“, und so improvisiert er einen Kompromiss: „Wenn de willst, kannst du mich ja jetzt ficken.“ „Das Tauschgeschäft funktioniert vielleicht im Knast. Hier draußen habe ich wat Besseres zum Ficken.“

So sieht vielleicht nicht gerade eine Balzac-haft lückenlose Darstellung sozialer Verhältnisse aus, aber „Qualverwandt“ ist trotzdem eine. Der Blick in zehn Wohnungen reicht für ein Panorama aus, in dem die deprimierendsten Seiten der condition humaine das Tanzen beginnen. Das wäre von schriller Ausbeutung nicht zu unterscheiden, wenn die Darsteller und Dialoge nicht so großartig nachvollziehbar und fleischig wären.

In Lamberts souverän eliptischer Schlag-auf-Schlag-Dramaturgie wird zwar am Ende nicht alles gut, aber es kreuzen sich da doch Linien und Diversitäten, für die der deutsche Film sonst kaum noch Platz hat. In einem späteren Leben oder einem anderen Land würde Lothar Lambert beim Fernsehen jene witzigen Serien mit genau bestimmbarer Klassenlage machen, die es hier anscheinend einfach nicht geben soll. Denn seine Filme sind die witzigsten des deutschen Kinos; Lothar Lamberts Kinematografie des Lokalen und der Freundschafts-Netzwerke ist aber vor allem im besten Sinne queer. MANFRED HERMES

„Qualverwandt“, Regie: Lothar Lambert. Mit Michael Sittner, Hilka Neuhof u. a. D 2002, 78 Min.

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