: Weltwissen mit Goethe und Fontane
Kinder sind geborene Egoisten, die sich vor allem für ihre eigene kleine Welt interessieren? Von wegen. Zum Glück geht der Trend dahin, die literarischen Messlatten höher zu hängen. Der Aufbau-Verlag etwa bestreitet mit hochwertigen Bilderbüchern ein ganzes Programm
von VERENA KERN
Seit zwei Jahren bringt der Berliner Aufbau-Verlag auch Kinderbücher heraus. Mit den vier aktuellen Neuerscheinungen liegen in der von Ute Blaich herausgegebenen Bilderbuch-Edition nun zwei Dutzend Titel vor. Das ist an sich nichts Besonderes. Im Kinderbuchmarkt sind viele Verlage engagiert, die Zahl der jährlichen Veröffentlichungen geht in die Hunderte. Kein anderer Verlag aber hat die literarische und künstlerische Messlatte bislang so hoch gelegt wie der Aufbau-Verlag. Zehn Auszeichnungen haben seine Bilderbücher dafür bereits erhalten.
Man muss den Kinderbuchmarkt kennen, um ermessen zu können, welche Sensation ein Buchprogramm darstellt, das der Vorstellung entgegentritt, Kinder seien für etwas kulturell so Hochstehendes wie Literatur und ästhetische Qualität noch nicht ansprechbar; das Kindern Picassos Leben anhand seiner eigenen Werke erzählt („Pablos Geschichte“, Text: Mario Giordano, 2000), Märchen von Wilhelm Hauff mit Bildern des Jugendstilkünstlers Max Reach zusammenbringt („Die Geschichte von dem kleinen Muck“, 2001; „Kalif Storch“, 2002), eine Liebesgeschichte des herrlichen Wolfdietrich Schnurre ausgräbt („Die Prinzessin kommt um vier“, Bilder: Rotraut Susanne Berner, 2000) oder ein Fontane-Gedicht von einem jungen Grafiker illustrieren lässt („Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“, Bilder: Bernd Streiter, 2002).
Gewöhnlich hat der Kinderbuchmarkt nur am Rande mit Literatur, Kunst, Ästhetik zu tun. In neun von zehn Fällen ist das moderne Kinderbuch nichts weiter als ein schlichtes Gebrauchsbuch, das sich in erster Linie darum verdient machen will, die Kinder auf „spielerische“, aber doch sehr direkte Weise auf den bevorstehenden Schulbesuch vorzubereiten. Es hat den Charakter einer Vorschulfibel, eines didaktischen Breviers. Es erzählt keine Geschichten, führt nicht in fremde Welten, greift nicht nach den Sternen. Es ist das traurige Artefakt des Erwachsenenvorurteils, wonach Kinder geborene Egoisten sind, die sich allein für sich selbst und ihre eigene kleine Welt interessieren. Folglich bleibt das Kinderbuch in der näheren Umgebung, bleibt auf dem so genannten Boden, ist handfest und nutzwertorientiert.
Inzwischen aber gibt es Anzeichen für einen beginnenden Richtungswechsel: die allgemeine Bestürzung über die Ergebnisse der Pisa-Studie oder der enorme Erfolg eines Buches wie Donata Elsenbroichs „Weltwissen der Siebenjährigen“, das Bildung zu einem Kinderrecht erklärt. Es scheint, als würde die Degradierung des Kinderbuchs zum pädagogischen Handlanger als das erkannt, was sie ist: ein Offenbarungseid, ein Skandal, eine faustdicke intellektuelle Unterforderung der Kinder; übrigens auch der Erwachsenen.
Etliche Verlage haben sich mittlerweile an das Experiment gewagt, Kunst und Literatur ins Kinderbuch zu importieren und damit für Kinder Texte und Bilder zugänglich zu machen, die nicht der Vorstellung entspringen, die Organisation des Lebens nach zweckrationalen Erwägungen stelle die höchste Form menschlichen Seins dar. Beispielsweise Hanser mit dem „Hexen-Einmaleins“ aus Goethes Faust, bebildert von dem begnadeten Zeichner Wolf Erlbruch (1998), oder Antje Kunstmann mit dem „Neuen ABC-Buch“ von Karl Philipp Moritz, ebenfalls mit Bildern von Erlbruch (2000), oder Carlsen mit „Feuerland ist viel zu heiß!“ von der wunderbaren Zeichnerin Anna Höglund (1995). Neu ist die Idee des Aufbau-Verlages, im Kinderbuch das Besondere und Hochwertige anzubieten, also nicht. Neu ist, dass der Verlag daraus ein ganzes Programm macht.
Die Herausgeberin der Edition, Ute Blaich, beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit Kinderbüchern. Sie hat früher die Kinder- und Jugendbuchseiten der Zeit betreut, beim Rowohlt-Verlag die Rotfuchs-Reihe verantwortet und sie hat selbst vier Kinderbücher geschrieben. „Man kann nicht davon ausgehen, dass die Liebe zu Büchern Kinder wie Malaria befällt“, sagt sie. „Man muss möglichst früh anfangen und möglichst früh Ansprüche setzen.“
Von den vier Titeln, die Blaich nun herausgegeben hat (neben Fontane und Hauff auch ein Buch über Käfer und eine großartig bebilderte Außenseitergeschichte), verkauft sich das Fontane-Buch am besten – obwohl oder gerade weil seine Illustrationen nicht gerade zur Avantgarde der Zeichenkunst zu zählen sind. Vielleicht ist das Verlangen nach permanenten Novitäten und Superlativen doch nicht so groß und das Bedürfnis nach Bildungsgütern, die sich nicht im Hier und Jetzt erschöpfen, doch nicht so gering, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.
Theodor Fontane, Bernd Streiter: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Aufbau-Verlag, Berlin 2002, 24 Seiten, 12,50 €
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