Der Untergang der Madeline Ascher

Schwierige Familiengeschichte: Marlene Streeruwitz sieht einem Frauenleben bei seiner Entblätterung zu. In „Partygirl“ erzählt sie von weiten Reisen, eleganten Garderoben und unzähligen Liebhabern. Es liegen aber gleich mehrere Leichen im Keller

Jeder Ausschnitt trifft perfekt komponiert eine andere Nuance der Schwermut

von EVA BEHRENDT

Das erste Kapitel beginnt mit Rätseln. Chicago, Oktober 2000, Madeline arbeitet in einer Reinigung. Kein Wort davon, wie alt sie ist, woher sie kommt, warum sie kurz vor einer Panikattacke steht, als ein Mann mit deutschem Akzent die Reinigung betritt. In der Mittagspause geht sie außer Plan nach Hause zu ihrem Bruder Rick. Er erschrickt, als sie sein Zimmer betritt, verschluckt sich an einem Stück Pizza und erstickt. „Bob Dylan sang: May your wishes all come true. May you always do for others and let others do for you. May you build a ladder to the stars and climb on every rung. May you stay forever young.“

Der Roman „Partygirl“ beginnt mit seinem Ende. Ein offenes Ende – vielleicht. Zwei Kapitel später dämmert es: Marlene Streeruwitz erzählt das Leben Madeline Aschers rückwärts. Rückwärts und in Ausschnitten, die unverbunden bleiben: Auf Chicago, Oktober 2000, folgen Havanna, April 1997, Berlin, Juni 1994, und so fort, über Santa Barbara, Kreta, Arezzo, Wien bis nach Baden, Juni 1950. Kann das funktionieren? Kann man einen Leser bei der Stange halten, der immer schon weiß, was fünf Jahre später geschehen sein wird? Marlene Streeruwitz kann, und das, obwohl sie keine Kommas setzt.

Der Streeruwitz-Sound gehört zu denen, die sich fest und ungebeten einnisten im eigenen Denken. Man ertappt sich bei unscharfen Kopien, bei der Entdeckung, dass Kommas Melodien schaffen, Punkte aber Rhythmen und dass das eigene Denken härter, kälter, unter Umständen bedeutungsvoller wird, wenn statt des erwartungsvollen Kommas ein endgültiger Punkt fällt, fallbeilmäßig. „Ein perfekter Morgen. Ein perfekter Tag. Ein kalifornischer Tag. Himmelblau und strahlend. Verheißungsvoll. Und immer das Gefühl, unter etwas zu sein. Hier. Sie hatte immer das Gefühl, unterhalb von etwas zu sein.“ Die Punktsätze von Marlene Streeruwitz fahren durch das Hirn der Madeline Ascher: eine Kamera, die willkürlich schweift, um sich dann schrittweise an ein Objekt heranzuzoomen.

Auf diese Weise sitzt man mit im illusionslosen Kopf der Madeline Ascher, von der dennoch in der dritten Person die Rede ist, und sieht ihr beim Leben und seiner Entblätterung zu. Man wird hinzu gezwungen, nicht gebeten, denn der Ton ist schnörkellos und ohne Leidenschaft (auch: ohne Witz). Trotzdem fällt man tief in eine Schwermut, die einem nicht gehört. Madeline denkt, erinnert und nimmt wahr, muss nichts erklären, und nötigt so den Leser zur Anteilnahme, bis er um jeden Preis wissen möchte, woran er eigentlich Anteil nimmt.

Langsam setzt sich die Möglichkeit einer Biographie zusammen. Madeline Ascher, die schöne, blonde Österreicherin, die im Alter von etwa fünfzig Jahren in einem schäbigen Reinigungsservice in Chicago schuftet, hat die vergangenen Jahrzehnte auf mondänem Fuß gelebt. Weite Reisen, elegante Garderoben, unzählige Liebhaber. Die Schattenseite des Reichtums sieht zunächst durchaus so aus, wie Lieschen Müller sich das nach der Gala-Lektüre vorstellt: Migräne, Neurosen, kein Beruf, keine funktionierende Beziehung, Lethargie und Leere. Was jedoch immer weniger am Luxus als an einer schwierigen Familiengeschichte zu liegen scheint. Auf den Aschers liegt ein Fluch, so wie in Edgar Allan Poes Gothic-Novel vom „Fall of the House of Usher“. Madeline und ihr Bruder Rick gehören nicht a priori zum Jet-Set, sondern kommen erst um die dreißig zum ganz großen Geld. Wie es verloren geht, bleibt nebulös: wahrscheinlich bringt Eric, ein später Geliebter Madelines, einen beträchtlichen Teil davon durch, vielleicht haben die Geschwister zu viele illegale Geschäfte betrieben. Auch darüber, wie es entsteht, lässt sich nur mutmaßen.

Denn wie bei Poe liegt auch bei den Aschers eine Leiche im Keller. Genauer gesagt, gleich mehrere. Da ist – Baden, 1968 – die schwerkranke Mutter, die der Onkel ärztlich versorgt, wobei er nebenbei unverdrossen die Nichte verführt. Die Mutter stirbt, allem Anschein nach keines ganz natürlichen Todes. War es die absichtsvolle Fahrlässigkeit Ricks oder Madelines? Danach, Wien 1970, sind sie reich. Der nächste Fluch betrifft den Vater, der in der Nazizeit herausfand, dass er Vierteljude war und augenscheinlich keiner sein wollte. Er liegt in Baden, 1957, bereits unter der Erde und beging zuvor zwei Todsünden – welche, erfährt man nicht (Mord und Lüge sicherlich). Nur, dass Madeline sich maßlos schämt und an seiner Stelle gezeichnet fühlt. Sie büßt und begeht ihrerseits eine weitere Sünde. Die heißt Rick. Spät bestätigt Streeruwitz die sorgsam gesäte Vermutung: Madeline und Rick waren als Teenager ein Liebespaar. Er beendet das Verhältnis, auch auf Druck von außen, Madeline ist bitter enttäuscht und bleibt es trotz diverser Therapien ein Leben lang.

Feministische Literatur? Natürlich. Marlene Streeruwitz hat auch bislang über wartende Frauen geschrieben, über die mehr oder meistens minder erfolgreiche Suche nach einer weiblichen Identität, die sich nicht allein auf männliches Begehren gründet. Dekonstruktion des biografischen Genres, das die Existenz und Darstellbarkeit eines Ich voraussetzt? Sicher. Streeruwitz’ letzter Roman „Nachwelt“ hat dieses Prinzip in Verbindung mit der weiblichen Identitätsproblematik gleich auf zwei Ebenen durchdekliniert. „Partygirl“ baut auf dem gleichen poetologischen Konzept – und rückt es doch in den Hintergrund, bringt es hinter Geheimnis und Spannung beinah zum Verschwinden: ganz gothic und schier unerträglich gut.

Jeder mikroskopische Ausschnitt, den Marlene Streeruwitz anführt, ist perfekt komponiert, trifft eine andere Nuance der Schwermut, konzentriert sich auf alltägliche Handlungen, unter deren Oberfläche immer zugleich Erwartung und Fluchtimpuls brodeln. Und wie in jeder guten Story belohnen die letzten beiden Kapitel mit der Idee einer Lösung. Lebenslänglich wiederholt demnach Madeline zwei Szenen: Als Kind bei der gymnasialen Aufnahmeprüfung zum Warten gezwungen, will sie davonlaufen, sich körperlich auflösen, verschwinden. Sieben Jahre später entdeckt sie im Freibad, kurz vor der Ankunft von Rick, die andere Seite. Nämlich das Glück der Erwartung, schwärmerisch und siegesgewiss, als Höhepunkt der Verliebtheit. In der Reproduktion dieser Spannung verlängert sie ihr Unglück, zögert aber auch auf faszinierende Weise ihr Altern hinaus. Gegen Ende, also anfangs, wirkt sie sogar heiterer: als könnten Flucht und erfüllte Erwartung gleich zusammenfallen.

Am Schluss ist es daher ein Leichtes, den Anfang zu verstehen: Nach Ricks Tod wird Madeline sich umgebracht haben. May she stay forever young.

Marlene Streeruwitz: „Partygirl“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 352 Seiten, 19,90 €