piwik no script img

personenschaden mit laub

von WIGLAF DROSTE

Personenschaden ist das Deutsche-Bahn-Wort für Selbstmörder. Wenn jemand seinem Leben ein Ende macht, indem er sich vor einen fahrenden Zug wirft, heißt er in den Lautsprecherdurchsagen der Bahn Personenschaden. Selbstmord – oder besser: Freitod – ist etwas sehr Einsames und Respektables; deshalb ist es mir überhaupt nicht sympathisch, wenn jemand andere in diese höchst persönliche Angelegenheit hineinzieht. Doch bei aller Abneigung gegen Lokführertraumatiseure zuckte ich heftig, als ich im Speisewagen eine laute Männerstimme sagen hörte: „Ja … Stunde Verspätung … Personalschaden. Da hat schon wieder so’n Arschloch die Grätsche gemacht.“ Der Sprecher war ein Kaventsmann um die 50, und er bölkte in sein Telefon. Er saß einen Tisch weiter. Plötzlich fixierte er mich und begann zu brüllen: „Hast du mit Kosslick gesprochön?“ Das e sprach er wie ein ö, und er war so laut, dass man seine Rede in Versalien transkribieren müsste: „HAST DU MIT KOSSLICK GESPROCHÖN?“ Nein, das sieht viel zu dezent aus, der Kerl brüllte mindestens in gefetteten Versalien: „HAST DU MIT KOSSLICK GESPROCHÖN?“

An Flucht war nicht zu denken, der Zug pickepacke voll. Ich sammelte mich, und in eine seiner raren Schreipausen sagte ich ernsthaft und leise: „Verschwiegenheit ist für mich kein leeres Wort. Ich habe nicht mit Kosslick gesprochen und mit niemandem sonst. Ich gehe auch nicht bei den Bullen singen. Geheimnisse sterben in meiner Brust. Sie können sich vollkommen auf mich verlassen: Kein Wort zu Kosslick, nicht von mir. Und deshalb duzen Sie mich bitte auch nicht.“

Ich fand das eine sensationell freundliche Art, die grobe akustische Unhöflichkeit zu parieren. Der Mann sah mich an, als sei ich ein Insekt und er eine Fliegenklatsche. Mit einem Gesicht, als wolle er grunzen oder rülpsen, drehte er sich weg und schrie ein Telefon-Du an, ob es mit Kosslick gesprochön habe. Immerhin lagen seine Fettaugen dabei nicht mehr auf mir herum.

Doch erneut tippte der Humpen in sein Gerät, stierte mich an, als wolle er mich mit Heftzwecken an eine Wand pinnen und fettete abermals auf mich ein. Diesmal hatte er seinen Text variiert: „HAST DU MIT LAUB GESPROCHÖN?“, grölte er. Ich dachte an die Touché-Figur von ©TOM, die ständig Bäume umarmt, und sagte leise: „Nein. Ich spreche nicht mit Laub, nicht im Herbst und nicht einmal im Frühjahr, wenn die Kastanienblätter zartgrün hervorlugen wie vorwitzige hübsche Brustspitzen. Ich spreche Pflanzen nicht von der Seite an, und ich telefoniere auch nicht mit ihnen. Auch nicht mit Laub.“ Ich sprach knapp zimmerlaut – weit unter seiner akustischen Wahrnehmung. Vielleicht hätte ich mit Messer und Gabel in den Mann eindringen können, aber lecker sah er auch nicht aus. Er war aus Vollgummi und toter als jeder Personenschaden, nur leider nicht so still. Ich sagte ihm das, doch weil ich nicht brüllte, hörte er es nicht. Sollte ich aber eines Tages Kosslick treffen oder Laub, sage ich ihnen etwas, das sie noch nicht gehört haben: Trommelfelle heißen Felle, weil man sie streichölln soll.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen