: Resonanzfläche Rastlosigkeit
Steinalte Italiener der alten Schule, schwerreiche japanische Gangster und ein polnischer Riese, der auf gesunde Ernährung setzt: Heute liest Jonathan Lethem im Podewil aus seinem preisgekrönten Roman „Motherless Brooklyn“
Wer nie dem Trieb widerstehen musste, sechs Treppen nochmal hochzulaufen, um sich davon zu überzeugen, was er ohnehin wusste, nämlich dass die Wohnungstür nicht offen steht, wer nie einem inneren Dämon gehorchend genau das tat, was gerade ganz und gar unangebracht war – wer also frei von Zwanghaftigkeiten ist, der werde Zen-Mönch und schaue sich den ganzen Quatsch von außen an. Wir anderen werden weiterhin Ordnung anstreben und Unordnung hervorbringen wie ein stummer Slapstick-Held. Wie Lionel Essrog – Fresstrog, Essmob, Testjob –, Detektiv mit Tourette-Syndrom, Sprachspieler wider Willen, sanfter Freak und einer der unwiderstehlichsten Erzählerfiguren, seit es Geschichten von nicht ganz erwachsenen jungen Männern gibt.
Oft kommen sie aus der Provinz, diese jungen Männer, und auch dieser hier könnte genauso gut aus Nowhere, Anystate stammen, bedürfte sein Vermögen zum Ausdruck nicht so absolut der Resonanzflächen urbaner Rastlosigkeit. „New York City, Lionel. Hast du jemals New York City verlassen?“ Hat er nicht – die Provinz heißt hier Brooklyn und ist ein enger Ort ausladender Gesten.
Frank Minna, großspuriger Kleinganove (man stelle sich Vincent Gallo vor), schart ein Häuflein Waisenjungs um sich und zeigt ihnen das Land, wo fortan ihre Träume spielen – aus dem Waisenhaus in die Mean streets und das Idyll zäh sich dehnender Jugendlichkeit. Jahre später ist Minna, der Ersatzvater und einzige Freund, der Philosoph des griffigen Gleichnisses, der Lionel die „Lizenz zum Sprechen“ gegeben hat und die Sprache obendrein, plötzlich tot, ermordet.
Was fängt man an, wenn der Held der Jugend nicht mehr da ist? Lionel (man denke an Edward Norton, der in der Tat plant, ihn auf die Leinwand zu bringen) spürt seinen Blick auf sich ruhen und sucht nach dem Mörder. Dabei verärgert er steinalte italienische Wise guys der alten Schule (Brooklyn), schwerreiche japanische Kapitalistengangster mit spiritueller Absicherung (Manhattan) und einen polnischen Riesen, der auf gesunde Ernährung setzt. Und immerfort muss er – dagegen helfen nur Sex und Prince-Songs – schreien, berühren, glattstreichen, küssen, fluchen, Peinlichkeiten herausplatzen, Bewegungen imitieren, Symmetrien herstellen, als würde die Roharbeit einer Maschine freigelegt, bevor die Bedeutungen zugewiesen und die sagbaren von den unsagbaren Dingen getrennt sind.
Tourette ist die Unordnung der Dinge und zugleich der ebenso manische wie vergebliche Versuch, Ordnung zu schaffen; es deckt Zusammenhänge auf und macht die Fragilität von Zusammenhängen bewusst. Jeder kennt das Gefühl, ein Wort plötzlich wie zum ersten Mal zu hören. Lionels Tics sind Motor einer Geschichte voller Sprachwunder, die eine seltsam gewordene Welt auffangen. „Motherless Brooklyn“ (Tropen Verlag 2001, 376 S., 19,80 €) gerät nie zur müßigen Vorführung sprachlicher Virtuosität – dafür sind die Figuren zu eigenartig, der Krimi zu spannend, und die Bilder, die die Dinge so liebevoll berühren wie Lionels Finger die Kragen seiner Mitmenschen, viel zu beseelt.
Der Roman ist schlauer als ein Experiment, deshalb gehen linguistische Ausuferung und lässige erzählerische Verve prima zusammen. Dazu gesellt sich sanfte Nostalgie: das Brooklyn der Minna Men ist ein Sehnsuchtsort, rückwärts projiziert aus der Gegenwart „aufgewerteter Nachbarschaften“. Eines gestattet Tourette nicht: Ruhe. Deshalb sind die Zen-Japaner erfolgreicher, und Lionels Liebesgeschichte geht traurig aus. Doch das kennt man ja von diesen Detektiven: brillant, aber einsam.
KARSTEN KREDEL
Heute, 20 Uhr, Literarischer Salon Britta Gansebohm, Podewil, Klosterstraße 68 - 70, Mitte; Michael Zöllner liest aus seiner Übersetzung
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