Winzige, befiederte Schafe

Sukkulenten sprechen im Schlaf: Ein Spaziergang im Botanischen Garten als letzte Hilfe gegen schlechtes Wetter, schlechte Laune, kalte Ohren. Jedes Kraut hat einen Namen, leise wird der Schritt. Gelassenheit breitet sich aus

Gereizte Gefühle machen die Runde. Selbst biegsame Frohnaturen beginnen das Fauchen – böse, kleine Funken irrlichtern in ihrer plötzlich ungehaltenen Rede. Condition humaine: Wetterfühligkeit, Migräne allerorten, ein Bad-Hair-Day nach dem andern. Auf der Fahrt über den Katarakt der Witterungen ist der kleine Nachen Ausgeglichenheit gekentert. Seine unglücklichen Passagiere werden sofort von einer Unterströmung schlechter Laune weggerissen und kommen erst nach mehreren Flussmeilen Drift wieder ans Ufer. Dann ist schlammiges Wasser in die Digitaluhr eingedrungen, die Sohle löst sich vom Schuh. Und die Mütze ist auch weg.

Zur Wiederherstellung der Gelassenheit bleibt dann allein die Fahrt in den Botanischen Garten: Hinein in das Treibhausidyll, das keinen saisonalen Schwankungen unterworfen ist. Am besten nimmt man dazu den Bus und steigt schon sehr früh ein, so weit wie möglich vom Fahrziel entfernt. Dann schaukelt man irrsinnig lange auf unergründlichen Pfaden durch die Innenstadt, als müsste man die Stunden teurer Lebenszeit eilig und frühzeitig ausspielen wie eine hohe Karte in einem jener Kartenspiele, in dem es nur darauf ankommt, möglichst keine Punkte zu machen. Allein das ist eine eindringliche Lektion in Demut, und wer sie besteht, wird schließlich ruhiger. Aber das ist nur der Anfang, denn dann tritt man durch das Tor in eine andere Welt voller Kontinente ein. Der Eintrittspreis ist lächerlich angesichts der Möglichkeit, zwischen internationalen Freigehegen zu wandeln.

Linker Hand ist Winter in Japan, geradeaus Winter im pazifischen Nordamerika und dahinter Winter in China. Das zeigen die sorgfältig angebrachten Schildchen. Überall ist die Natur auf beruhigende Weise durchalphabetisiert. Es gibt kein Kraut, das keinen Namen hat, und langsam kommen auch die Namen der guten Freundinnen und Freunde zurück, die Namen der Straßen, in denen man glücklich war und die Namen der Dinge, die einmal Freude gemacht haben. Die tief fliegenden Singvögel sind vielleicht Blaumeisen, oder blaustirnige Überschallfinken? Was für ein Übermut in diesen kleinen Dingern tobt … Im Innern der Treibhäuser sind am besten die kurzen Momente, in denen man ganz allein mit den schweigsamen Pflanzen ist. In der feuchtwarmen Sumpf-Suite fallen vereinzelt Tropfen von der Decke in das grünliche Wasser.

Sukkulenten sprechen im Schlaf kaum hörbar mit sich selbst. Die große Tellerseerose Viktoria, die den dunklen Berliner Winter nicht überlebt, muss jedes Jahr im Frühling neu gezogen werden. Das machen die Gärtner. Jetzt liegt der Pool mit seiner leeren Wasseroberfläche unbeweglich, ereignislos. Es ist still und stickig. Die eigenen Bewegungen werden weich, der Schritt wird unwillentlich leise, etwas saugt sich voll. Der Trakt mit den tropischen Nutzpflanzen ist angefüllt mit sanfter, zurückhaltend gewürzter Luft. Die Temperatur ist ideal. Der hohe Raum mit seinen Zirkelpfaden wird von kleinen, bunten Vögeln durchflattert, die nicht zwitschern, sondern eigentümliche Laute ausstoßen, als seien es eigentlich winzige befiederte Schafe, die fliegen können. Immer wieder hört man ihr leises, kehliges Määp, sehr verhalten, sehr exotisch und auf nachhaltige Art erheiternd.

Am Ende des Rundgangs hilft der freundliche Wachmann in den Mantel zurück. Die in die Wandmulden eingelassenen Aquarien bieten ein submarines Panorama. Frischere, kühle Luft kommt hereingeweht, und plötzlich breitet sich ein neues, altes Gefühl aus: Gelassenheit. Jetzt gilt es, schnell in den Bus zu steigen und die Augen gesenkt zu halten. Mit verhangenem Blick, die Lider halb über den Augen, lässt es sich trefflich durch den späten Nachmittag fahren, und wenn jetzt nichts mehr passiert, hat man für diesen Tag gewonnen. MONIKA RINCK