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Ausgezogen bis auf’s letzte Hemd

Junge Kunstszene macht gegen Kultursparer Flierl mobil. Kürzungen sind „Schlag ins Gesicht“. Podewil droht Aus

Es kam einer Performance gleich. Christoph Tannert, Leiter des Künstlerhauses Bethanien, erhob sich drohend von seinem Stuhl auf dem Podium. Sein vor Wut leicht gerötetes Gesicht erschien eine Nuance dunkler als sonst. Als er mit beiden Fäusten sein Hemd packte, dachten die etwa 100 anwesenden Künstler, Theaterleute, Politiker und Journalisten er würde dies – oder gar sich selbst – in Stücke reißen. Aber es kam glücklicherweise nicht zum Äußersten. Tannert legte nicht Hand an sich, zog nur sein Hemd aus, um die Aufschrift auf seiner breiten Brust zu demonstrieren: „Vorsätzliche Geistesabwesenheit“ stand darauf. Den Anwesenden war das ein Applaus wert.

Wirklich gefährlich hätte es am Dienstag im Kunsthaus Podewil nur für den Adressaten der Aktion, Kultursenator Thomas Flierl (PSD), werden können. Weil bekannt geworden war, dass der Senat – entgegen seinen Ankündigungen – den Sparhammer massiv bei der jungen Kulturszene ansetzen will, trommelten die betroffenen Institutionen zu einem Auftritt, um „Gegenmaßnahmen“ zu beraten.

So viel sei vorweggenommen: Zu mehr als zur gemeinsamen Empörung und der Drohung, „auf die Straße zu gehen“ und den Kultursenator zu Gesprächen zwingen zu wollen, verabredeten sich die von der Schließung ihrer Häuser betroffenen Leiter vom Bethanien, dem Podewil, von den Kunstwerken (KW) und dem Verband Bildender Künstler (BBK) erst einmal nicht. Müssen sie wohl auch nicht, wird doch der Senator die Vorwürfe, er sei „politisch feige“, „provinziell“, „überangepasst“, ein „Kulturzerstörer“ und eben „geistesabwesend“ nicht unwidersprochen auf sich sitzen lassen.

Denn von allen guten Geistern muss Flierl verlassen gewesen sein, führt man sich die Konsequenzen für die Häuser vor Augen, weil er die neuesten Sparbeschlüsse der jungen Szene und deren Veranstaltungsorten auf’s Auge drückte. So werden, sagte Wilhelm Großmann (Podewil), nicht die „Großen“, sondern „die Kleinen gerupft“. Mit 750.000 Euro weniger bis 2003 (ein Drittel des Etats) und der geplanten Schließung des Hauses „wird eine international verankerte kulturelle Aufführungsstätte“ für modernes Theater, Tanz und zeitgenössische Kunst „kaputtgemacht“.

Die Verringerung der Mittel um 100.000 Euro für die KW inmitten des Galerienviertels rund um die Auguststraße, erläuterte KW-Chefin Elke Becker, ist nach ihrer Ansicht ein „Schlag ins Gesicht“ für die zeitgenössische Kunstszene der Hauptstadt. Die Kürzung, die für andere wenig bedeute, gefährde hier das Überleben des Kulturzentrums.

Für Tannert hilft da nur die Aktion und der „Weg in die Öffentlichkeit“. Kürzt Flierl ihm ebenfalls rund 90.000 Euro, sei das Künstlerhaus Bethanien mittelfristig pleite. Vielleicht hat er darum sein (letztes) Hemd nicht zerrissen. ROLA

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