Szenen einer Ehe

Wenn Winnetou seinen Leinwandtod stirbt, leidet die TV-Nation. Denn in dem Helden Karl Mays haben die Deutschen den edlen Geistesverwandten schätzen gelernt. Heute vor neunzig Jahren starb der sächsische Abenteuerliterat

von ROLF-BERNHARD ESSIG

Kaum erklingen die ersten Töne der „Winnetou“-CD – nein, jetzt nicht Lindenblütentee-Madeleines! –, sitze ich als Kind in unserem Fernsehzimmer auf dem abgewetzten Erbsofa vor dem Schwarzweißflimmerkasten, spüre die Unruhe der Brüder neben mir, die wie ich ängstlich alles vermeiden, was den Vater zur plötzlichen Rücknahme der Fernseherlaubnis bewegen könnte.

Damals, Anfang der Siebzigerjahre, kannte ich Karl May nur von einem Quartettspiel, dessen Bilder und Kommentare mich begeisterten: „Die Lokomotive rast in den Saloon“, „Nscho-tschi pflegt Old Shatterhand“ oder „Die Freunde reiten neuen Abenteuern entgegen“. Bis mir mein ältester Bruder erlaubte, die grünen Bände in die Hand zu nehmen, vergingen noch Jahre. Da war Pierre Brice schon mein Winnetou, Lex Barker mein Old Shatterhand, Ralf Wolter mein Sam Hawkins, Mario Adorf mein Santer. Den feigen Mörder, dessen Ausstrahlung man sich kaum entziehen konnte, hasste ich – wie alle Mitglieder der May-Gemeinde – leidenschaftlich. Adorf bekam es früh zu spüren: Weil er Marie Versini und Intschu-tschuna erschossen hatte (die Vermischung von Rolle und Darsteller ist typisch für May-Film-Fans), war er nach dem Kinostart von „Winnetou 1. Teil“ (1963) seines Lebens nicht mehr sicher. Zu überzeugend hatte er den Mörder gemimt: wild lachend, energiegeladen, grundböse.

Erst nach vielen Jahren nahm ich die tragische Entwicklung Santers wahr, die Adorf sensibel durch die sukzessive Demontage des Unholds vorführt. In der ersten Szene schießt er als Stutzer Bisons tot – im tadellos sauberen dunklen Anzug mit Samtbesatz, um den weißen Hemdkragen eine schwarze Lavallière (auch als „Künstlerschleife“ bekannt), dazu eine golden schimmernde Weste und einen hellen Strohhut mit Lederband auf dem ölig exakt frisierten Haar. Was für ein Mann!

Nach der schrecklichen Schlacht um den Saloon schleicht sich Santer zu den Pueblos der Apachen schon ohne Hut und schaut ein wenig wirr aus der fleckigen Wäsche, während er Lex Barker und Nscho-tschi beim Händchenhalten belauscht. Am Nugget-tsil, nachdem er die Blume der Prärie geknickt und ihren Vater ewig jagen geschickt hat, flieht er vor den Verfolgern nunmehr gänzlich abgerissen: offen der Kragen, schmutzig der Anzug, fettig, verschwitzt und strähnig das Haar, ein Mann ganz aus der Fasson. Kein Wunder, dass er, angeschossen am Felsen hängend, bald den letzten Halt verliert und abwärts strebt.

Solch finstere Bösewichter verliehen den strahlenden Helden recht eigentlich ihren Glanz. Manchmal drohten sie sogar die positiven Figuren an die Wand zu spielen, wie der vielleicht noch schönere Film-Erzschurke, der Schut (Rik Battaglia). Auch er fällt in den Graben, nicht zuletzt weil er sein Pferd malträtiert. Im Film von 1964 findet das Todesrennen zwischen Kara Ben Nemsi (Lex Barker) und dem Schut am helllichten Tag statt, im Buch zur Zeit der Dämmerung. Der Bösewicht jedenfalls entspricht dem Klischeeverbrecher des Originals: Battaglia gab einen wunderbaren, einen pracht- und humorvollen Schurken. Was für Zähne, welch gepflegter Bart, wie hinreißend sein Lächeln, wie energisch die Bewegungen!

Da machte Lex Barker als steifer Deutscher mit saurer Miene keinen Stich. Fast unerklärlich, dass die junge Tschita (Marie Versini) dem drängenden Werben dieses bezaubernden Dunkelmannes mit seinem erheblichen Charme und dito Barmitteln nicht nachgab. Der Grund liegt wahrscheinlich darin, dass ihr Böses schwante. Und tatsächlich: Zu ihrem und der ganzen Nation Entsetzen verging sich Rik Battaglia 1965 in „Winnetou 3. Teil“ schlimmer als Judas und Pilatus zusammen am deutschen Indianerheiland und ermordete Winnetou. Der aber war Marie Versinis Filmbruder, hatte sie doch schon 1963 die Nscho-tschi gespielt.

Als hätte niemand das Buch gelesen, schwamm damals das Kinopublikum schon vor der Uraufführung in Tränen der Bestürzung. Leserbriefkampagnen gegen das hinterhältige Filmattentat brachen los und eine Änderung der Handlung wurde gefordert. Wieder musste sich ein Hauptdarsteller bei der Premiere vor wütenden May-Jüngern verbergen, die den Schurken Battaglia-Rollins zur Strecke bringen wollten. Viele Zuschauer blieben aber lieber gleich zu Hause: Ein deutsches Herz bräche angesichts solcher Perfidie.

Die einst so stürmische Romanze zwischen Karl May und den Deutschen, wie oft wurde sie totgesagt! Doch vor vielen Jahren schon transformierte sie sich in eine Ehe. Da gab es Phasen grauen Alltags, in denen man einander kaum beachtete, nebeneinanderher lebte, dann wieder überraschten sich die lang Getrauten mit Blumen, Champagner, Reizwäsche oder Geständnissen und genossen so einen zweiten, dritten und so weiter Frühling.

Wie vital die Beziehung geblieben ist, wie es unter den Schlacken weiterglüht, bewies im vergangenen Jahr Michael Herbigs bunter Strauß an May-Motiven. Natürlich funktioniert „Der Schuh des Manitu“ für sich allein, doch besonders große Wirkung konnte er entfalten, weil die Bücher und Filme von oder nach Karl May längst – wie weiland die Volkslieder – im kollektiven Bewusstsein als populärer Mythos fest verankert sind. Winnetou, der Apache der westlichen Plains, nicht Chingachgook, der Rote aus den östlichen Wäldern, repräsentiert für die Deutschen bis heute die Indianer (Pardon, „First Nations“). Der arabische Beduine Hadschi Halef Omar, nicht der mesopotamische Harun al Raschid steht für den Orientalen. Selbst die Presse kann gar nicht anders, als immer wieder mit May-Titeln wie den „Schluchten des Balkan“, dem „Wilden Kurdistan“ und „Durch die Wüste“ zu spielen.

Ein wenig anders sähe es heute wohl aus, hätten nicht die Filme der Sechzigerjahre eine kraftvolle Renaissance eingeläutet. Die Bundesrepublik befand sich gerade in der sensiblen Phase, die man Flegeljahre und Backfischzeit nannte, als „Der Schatz im Silbersee“ 1963 in die Kinos kam. Geradezu biblisch – schon Mays Romane hatten den Ich-Helden zu einem Quasiheiligen stilisiert – bereitete ein Off-Sprecher zu Beginn des Films die Zuschauer auf den Augenblick der Begegnung mit den Heroen Old Shatterhand und Winnetou vor: „Wir sehen sie von Angesicht zu Angesicht.“

Zwischen Unsicherheit, überwertigen Ideen und Tagträumen sank die pubertierende Nation tief in die Kinosessel. Nach Jahren der Heidi-Alpen-Sissi-Filme lockte nun endlich die (jugoslawische Karst-)Welt mit einem heldischen Deutschen, auf den man besten Gewissens stolz sein durfte. Fast die ganze männliche Bevölkerung kannte ja den May’schen Protagonisten, der mal Old Shatterhand, mal Kara Ben Nemsi, mal Charley, mal Herzle, mal May und am häufigsten Ich heißt.

Der ist ein Supermann, doch ein sympathischer. Er stammt wie sein Erfinder aus Sachsen, hat das Herz auf dem rechten Fleck und Glaube, Liebe, Friede darin. Seine geistigen wie körperlichen Fähigkeiten sind enorm, er ist furchtlos, treu, barmherzig. Und bis auf die Schurken, die von ihm immer irgendwann doch noch erlegt werden, lieben ihn alle. Kurz: Der Held ist ein Deutscher, wie man ihn sich nur erträumen kann. Er ist so deutsch, dass er das Deutsche in der Fremde anzieht wie ein Bildschirm den Staub. Sind die Leser über hunderte von Seiten entführt in unwegsame Steppen, Wüsten, Schluchten, Urwälder, Savannen oder Moore, wird es ihnen doch wieder heimelig, wenn sie der Dichter an der Seite seines Alter Ego eintreten lässt in ein reinliches Hüttchen, bewohnt von deutschen Auswanderern, wenn er mit ihnen im grotesk gekleideten Westmann den gebürtigen Altenburger wittert, wenn er deutsche Weihnacht im Wilden Westen feiert.

Wie in einem Ballon mit dem Aufdruck „made in Germany“ schwebt der Leser über dem exotischen Terrain. Wo es in der Fremde aber am schönsten ist, zeichnen sich die Eingeborenen unzweifelhaft durch deutsche Qualitäten aus. Zu denen gehört gewöhnlich die Treue. In dem Verlag, der seinen Namen trägt, nahm man es mit der Texttreue allerdings nicht so ernst. Die meistverbreitete Ausgabe enthält May in unterschiedlichen Gewichtsanteilen, ja der Band 50 der Bamberger Gesammelten Werke stammt nicht einmal von ihm.

Die Liste der Eingriffe ist lang: Vielfach wurde der Originaltext Mays umgestellt, geändert, ergänzt, verkürzt, eingedeutscht, getönt oder umgebildet. In der Version der Bamberger „Diamantschleifer“, wie sich die Bearbeiter aus dem Karl-May-Verlag selbst nennen, weil sie „durch bewusstes Verändern eines Steines dessen Schönheit erhöhen“, lasen Millionen von Lesern „Winnetou I“ mit tausenden Varianten gegenüber der Erstausgabe.

Die immer härtere Kritik veranlasste inzwischen den Verlag, eine teurere Faksimileausgabe der Originale zu publizieren und Bände der „Gesammelten Werke“ einer nicht kenntlich gemachten Rückbearbeitung zu unterziehen. Andere Veränderungen verteidigt der Verlag vehement, der anscheinend May als Privateigentum empfindet. Das wäre eine Erklärung für die juristischen Attacken gegen andere Ausgaben des seit 1962 gemeinfreien Autors.

Die unklare Textlage stört viele Fans nicht, oft wissen sie gar nichts davon; sie begnügen sich mit dem scheinbaren Qualitätssiegel „Karl May“ auf dem grünen Umschlag. Die Filme allerdings waren von den Originalen noch weiter entfernt. Das machten, gerade die ersten, wett mit einem überraschend kräftigen Schuss Professionalität – womit sie die Welle der Spagettiwestern auslösten – und Internationalität: Den Ideal- und Superdeutschen Old Shatterhand spielte ja ein Amerikaner, den kaum weniger deutsch-tugendhaften Winnetou ein Franzose, und das Publikum verliebte sich im Nu in das alliierte Paar Brice/Barker. Echte Deutsche durften lediglich weibliche, komische und beigeordnete Figuren mimen: Karin Dor, Marianne Hoppe, Elke Sommer, Ralf Wolter, Götz George, Dieter Borsche, Eddi Arent, wobei die Letzteren wiederum Engländer spielten.

Es war wohl in den Sechzigerjahren für viele Zuschauer ein wenig, als wäre man in den Stand der Unschuld zurückgefallen. Im Film war der Deutsche wieder wer, man schätzte oder fürchtete ihn, das tapfere Kämpfen war wieder erlaubt, Gut und Böse waren klar geschieden, der Verlauf des Abenteuers war erwartbar, Lohn und Strafe waren gerecht verteilt. Nationalstereotype durfte man wieder leichtherzig belachen, weil sie ja, wie der reiche englische Lord oder der hinterlistig-feige Orientale, aus dem letzten Jahrhundert stammten.

In puncto Komik zeigt Michael Herbigs „Schuh des Manitu“ allerdings, wie viel man seit den Tagen Thomallas, Arents, Erhardts, Howlands vom englischen Humor Marke „Monty Python’s Flying Circus“ gelernt hat. Bewundernswert vor allem die Tanzeinlage des „Superperforatorsongs“ oder das „Lebkuchenherz“-Ballett. Für so etwas war die Zeit vor vierzig Jahren noch nicht reif.

Früher wie heute allerdings rührt die Musik der damaligen May-Filme des Deutschen Gemüt. Sie entführte die noch wenig reisegewohnten Zuhörer in die Ferne mit ebenso einfachen wie wirksamen Mitteln: der Mundharmonika als Westerninstrument, E-Bass-Läufen im Pferdeschritt, knackigen Bläsersätzen für die galoppierenden Schurken, einem offenen, leicht verstimmten Klavier für Saloonatmosphäre und dann dem weit schwingenden Streicherthema der Titelmusik, der Old-Shatterhand-Melodie.

In den Sechzigern, als es Soundtrack-Alben noch nicht gab und Merchandising ein unbekanntes Wort war, stürmten manche der Karl-May-Film-Singles ohne Mühe die Hitparaden. Jetzt erschien – sinnigerweise bei der Firma „Bear Family Records“ – die gesamte auffindbare Karl-May-Filmmusik in einer herrlichen Großkassette plus 196-seitigen Begleitbuchs im LP-Format. Wie bei ähnlichen Projekten (etwa der Friedrich-Hollaender-Ausgabe) wartet die Box mit gediegenem Material, Credits, Inhaltsangaben und natürlich mit vielen Bildern auf: Kinoplakaten aus aller Herren Ländern und reihenweise Szenenfotos. Es fehlen auch nicht Informationen und Musik zu „Durch die Wüste“ von 1936 oder „Die Sklavenkarawane“ (1958) und „Der Löwe von Babylon“ (1959).

Ob diese wunderbare CD-Sammlung wieder einmal zu einer May-Renaissance führen wird? Ob die über fünf Millionen Besucher nach dem „Schuh des Manitu“ an die Regale ihrer Großeltern oder in die Buchhandlungen gehen werden, um zu sehen, was das Original taugt? Aber das tun auch nur wenige der jährlich vielleicht einen Million Besucher von Bad Segeberg, Elspe oder dem anderen Dutzend Festspielorten. Wahrscheinlicher ist, dass Karl Mays Figuren im Mythos weiterleben werden, von dem man nicht mehr weiß, wann und wo er entstand.

ROLF-BERNHARD ESSIG lebt als freier Autor in Bamberg. Mehr über Karl-May-TV auf den heutigen Medienseiten der taz