: „Hoch und runter, immer wieder“
taz-Serie: „Berliner Bergwelt“ (Teil 1): Mit nur 75 Meter Höhe überragt der Insulaner fast die ganze Stadt. Hier joggt der Mathematik-Student Felix Berg. Denn er will wirklich hoch hinaus – auf den 8.586 Meter hohen Kangchendzönga in Nepal
von JAN ROSENKRANZ
Der Kangchendzönga ist 8.511 Meter höher als der Insulaner. Der „Kantsch“, wie Bergsteiger ihn auch nennen, entstand nach der Kollision kontinentaler Platten, der Insulaner nach der Explosion alliierter Bomben. Und auch sonst verbindet beide Berge nicht viel – steht doch der eine am östlichsten Ende Nepals, der andere im südlichsten Schöneberg. Doch schon in wenigen Wochen könnten Himalaya-Riese und Trümmerberg eine Gemeinsamkeit haben. Dann nämlich, wenn Felix Berg auf beiden Gipfeln stand.
Der 21-Jährige gehört zu den besten Kletterern Berlins und hat schon ein paar ordentliche Berge bezwungen. In den kommenden Wochen will er zusammen mit einer achtköpfigen Expedition den dritthöchsten Berg der Erde besteigen – den Kangchendzönga. Morgen soll es losgehen. Er muss noch Sachen packen und eine letzte „Testbesteigung“ des 75 Meter hohen Insulaner absolvieren. Eigentlich eine Frechheit. Als würde man ihn, Felix, den Mathe- und Physikstudenten, der unmittelbar vor der großen Klettertour seine letzte Zwischenprüfung mit Eins bestanden hat, das Einmaleins abfragen. Als würde man Michael Schumacher in einen Tretroller setzen. Aber Felix sagt „Okay“ und Beagle-Mischling Goldi muss sowieso noch vor die Tür.
Zum Fuße des Berges gelangt man in fünf Minuten vom S-Bahnhof Priesterweg. In der Sembritzkistraße, beste Wohnlage, erhebt sich rechts die Ostflanke des Trümmerbergs. Ziemlich bescheiden. Der frisch asphaltierte Weg führt im Bogen die seichte Anhöhe hinauf, bevor er im ersten zarten Grün der Parkanlage verschwindet. „Im Training jogge ich hier oft, hoch und runter, immer wieder“, sagt Felix Berg und lächelt. Er trägt eine dicke Daunenjacke, blonde Haare halblang und die Fleece-Mütze tief im Gesicht. März, Mittwoch, Mistwetter.
Die Reise geht von Berlin über Frankfurt und Kathmandu weiter bis Taplejung. Von da an wird gelaufen, zwei Wochen lang, über 100 Kilometer weit. Allerdings werden sie dann in 5.100 Meter Höhe erst das Basislager des Kantsch erreicht haben, werden campieren und sich im Schatten der riesigen Nordwand aus Granit und Gneis und Eis akklimatisieren – drei Kilometer hoch und fünf Kilometer breit. Auch Felix Berg kennt sie bislang nur von Fotos.
Vor zwei Wochen hat er aufgehört zu trainieren. Wie ein Leistungssportler kurz vor Olympia: Form halten, Kräfte schonen. Eigentlich heißt Aufhören aber nur, dass er jetzt nicht mehr 70 Kilometer in der Woche gelaufen ist, sondern nur noch 20 und nicht mehr fünf mal pro Woche an der Wand in der Neuköllner Kletterhalle hing, sondern nur noch zweimal. Es muss schwer sein, eine Freundin zu finden, die so dünn ist, dass sie zwischen Klettern und Studium passt. „Ich habe keine“, sagt Felix und lächelt. Er lächelt viel, weil er ein netter Kerl ist und weil nette Kerle manchmal unsicher sind.
Nur die Ruhe. Gemächlich geht es den Insulaner hinauf, bedächtigen Schrittes, den Blick fest zum Boden gerichtet. Bergsteigermacke. Schon als kleiner Junge ist Felix mit den Eltern durchs Gebirge gewandert. Meist in den Alpen und meist weit oben und irgendwann auch gefährliche Routen. Da meinte die Mutter, es wäre wohl besser, das Klettern zu lernen. Sie hat den Anfängerkurs fünfmal wiederholt, Felix aber wurde immer besser. Und ehrgeiziger. Bis zum Schwierigkeitsgrad 10 Minus kann er jetzt souverän kraxeln. 10 Minus, was verdammt schwierig sein muss, die Skala geht nur bis 11.
Noch ein paar Schritte, die halbe Höhe ist geschafft, eine Asphaltfläche erreicht, die sich zwischen die beiden Gipfel des Insulaner zwängt wie ein Sattel zwischen zwei Kamelhöcker. Man könnte prima verschnaufen auf diesem Plateau, wenn es anstrengend gewesen wäre. Ist es aber nicht. Darum gehen auch die meisten Leute einfach weiter, nach links hoch zum Südgipfel und zur Wilhelm-Förster-Sternwarte oder nach rechts hinauf zur Nordspitze. Kaum jemand beachtet den Gedenkstein am Wegesrand: „Der Insulaner – geschaffen in den Jahren 1946 bis 1951 aus Trümmern des Zweiten Weltkrieges trotz Not und Blockade. Berlin Schöneberg, 11. August 1951.“ Ernst Reuter war damals hier, um einzuweihen und zu taufen, was sich in den Trümmerverwertungsanlagen nicht zu Ziegelsplitt zerkleinern ließ und darum auf Restschutthalden gekippt werden musste – 1,8 Millionen Kubikmeter begrünter Schutt.
„Der Insulaner verliert die Ruhe nicht“, appellierte die berühmte RIAS-Frontstadthymne an die Bewohner West-Berlins. Das hat sich auch Felix vorgenommen: egal was passiert, ruhig und besonnen bleiben. Wie damals in den Anden. „Das lief nicht so gut“, sagt er knapp. Sie waren zu dritt, hatten den Gipfel schon fast erreicht, als plötzlich ein Freund höhenkrank wurde. Durchs Dunkel mussten sie ihn runtertragen – vorsichtig und konzentriert. Beim Bergsteigen muss man sich immer konzentrieren – auf das Seil, auf den Weg, auf das Wetter, muss genau überlegen und kühl berechnen. „Mathematik und Klettern. Ich glaube, dass beides sehr ähnlich ist“, sagt Felix. Wer sich bei einer komplizierten Matheaufgabe in Teilschritten verrechnet, kommt zu keinem Ergebnis. Wer beim Klettern Fehler macht, kommt bestenfalls nie oben an, stürzt schlimmstenfalls in die Tiefe.
Vom Insulaner stürzt niemand ab. Man könnte sich mit Anlauf die Böschung hinabwerfen und würde im Gestrüpp landen. Wer will das schon. Hier oben will man in den Himmel schauen und nach Sternen suchen oder in die Ferne blicken, wo Gedächtniskirche und Europa-Center über alle Dächer ragen. „Vielleicht ziehe ich bald um, nach Freiburg, um näher an den Bergen zu sein“, sagt Felix. Goldi schnüffelt und setzt eine Marke bevor der Abstieg beginnt – über die Rodelbahn auf der Westseite des Insulaners, wo eine weit auslaufende Schneise hinab ins Tal führt.
80 Tage wird Felix Berlin und auch den Insulaner nicht mehr sehen. Er wird im Basislager sitzen und immer wieder auf diese riesige Nordwand blicken. Rechts außen, direkt durch den Gletschersteilabbruch, führt die Route der Japaner auf den Kantsch. „Die ist Harakiri“, sagt Felix. Die Messner-Route verläuft in der Mitte der Wand über den Sporn, der wie ein Stützpfeiler aus dem Berg ragt. Die Route ist sicherer, doch Daniel Mazur, der erfahrene Leiter von Felix Expedition, will einen neuen Weg probieren, genau dazwischen. Zwei Wochen lang werden sie hoch und runter klettern, mit Steigeisen und Eispickeln und schwer bepackt, um fünf weitere Lager in der Wand zu errichten. Und wenn das Wetter stimmt, werden sie die Gipfelpyramide erklimmen und zwei Meter unterhalb der Spitze respektvoll stehen bleiben. Denn der Berg ist heilig. Auf dem Kangchendzönga thronen die Götter, auf dem Insulaner thront eine Sternwarte und sonst nur noch ein Fünkchen Fontstadtgeist.
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